Eine Bittschrift von 1816

Das Leben der Hattorfer um 1816

Es ist immer spannend, sich mit dem Alltagsleben unserer Vorfahren zu beschäftigen. Die Mitteilungen, die sich zufällig erhalten haben, sind oft Urkunden, aus denen man Alltägliches aus uralter Zeit erfahren kann. Und da es anderswo wahrscheinlich ähnlich zuging, haben solche Überlieferungen dokumentarischen Wert. Das betrifft auch eine Bittschrift des Osteroder Rechtsanwalts Dr. König, die er im Jahre 1816 an die Königliche Regierung nach Hannover schickte. Dabei soll daran erinnert werden, das Hannover seit 1814 Königreich war. Erster König war Georg III., der zugleich König von Großbritannien und Irland war und in England lebte. Hattorf hatte im Jahre 1816 190 Bauernstellen und 1150 Einwohner. Die traurige wirtschaftliche Situation in Hattorf war Veranlassung für die Bittschrift, die Dr. König nach Hannover sandte. Der Ackerbau war damals der einzige "Nahrungszweig" für die Hattorfer. Durch die Domänen, einer besonderen Form landesfürstlicher Wirtschaftspolitik, sicherte sich das Königreich Hannover auch hier seine Einnahmen. So versteht man, wenn Dr. König schreibt:
Der Ackerbau "wird sehr gedrückt durch die ... Weide, welche die Domäne auf den Äckern und Wiesen der Bauern ausüben darf ". Darüber hinaus war den Bauern nicht erlaubt, auf ihrem eigenem Grund und Boden ihre Schafe weiden zu lassen. "Sie müssen ihre Schafe in die benachbarten preußischen Staaten bringen und dort die Weide bezahlen ". Das erscheint unglaublich, denn wenn man sich die damalige Landkarte beschaut, stellt man fest, dass das nächstgelegene preußische Gebiet das heutige Nordthüringen war. Darüber hinaus hatten sich auch die mannigfachen Kriegswirren erheblich bemerkbar gemacht und der Landwirtschaft in hohem Maße geschadet. Nicht nur, dass die Felder verwüstet wurden, sondern es fehlten vor allem die Bauern, die in großer Zahl in den Krieg ziehen mussten. Damals gehörte Hattorf zu dem kurzlebigen Königreich Westfalen, und die wehrfähigen Männer wurden rekrutiert. Übrigens starben viele von ihnen als Soldaten Napoleons in der großen Armee, die 1812 nach Russland zog und dort fast völlig aufgerieben wurde.
Von dem darauffolgenden "Freiheitskrieg" wurden weite Bereiche Deutschlands überzogen. So schreibt denn Dr. König: "Der Ackerbau hat seit dem Jahr 1808 bis jetzt durch die beispiellose Zahl von Kriegsgefahren, wo die fleißigsten Hände durch Kriegsdienste dem Feldbau entzogen sind, unendlich gelitten". Die große Armut machte es unmöglich, dass sich die Leute "ordentlich" kleiden konnten. Im wesentlichen wurde grobes Leinen benutzt, und die Kleidung musste immer wieder geflickt werde, so dass sie einem "Mustergarten" glich: "Man sieht oft nur Flicken und glaubt, die ländliche Kleidung sei aus diesen zusammengesetzt".

Sehr anschaulich wird der enorme Fleiss dieser Menschen geschildert, der doch kaum das Lebensnotwendigste einbrachte: "Des Morgens um 2 Uhr gehen Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen auf die Dreschdiele. Bis 8 Uhr haben elf Personen etwa 60 Garben gedroschen. Dann geht der Altvater, oft ein siebzigjähriger Greis, in die Dreschscheuer und reinigt die Frucht, womit er sich unter Mithilfe von unmündigen sechs-, acht-, und zwölfjährigen Kindern bis nachmittags um 4 Uhr beschäftigt". Wenn die Männer bis 8 Uhr in der Frühe mitgedroschen haben, ziehen sie mit dem Gespann in den Wald, bestellen den Acker oder führen Lohnarbeiten aus. "Nach ihrer Heimkehr um 12 Uhr ... tragen sie die gereinigte Frucht auf den Boden. Ist dies geschehen, so setzen sie sich an den Webstuhl und weben bis 8 und 9 Uhr des Abends Leinen von ihrem selbsterzeugten Flachs".
Selbstverständlich hatten auch die Frauen den ganzen Tag über viel zu tun. Unsere Schulkinder von heute dürften ungläubig staunen, wenn sie hören, wie damals ihre Altersgenossen nach der Schule noch wahre Schwerstarbeit leisten mussten. Aus anderen Berichten wissen wir, dass die Eltern manchmal aus purer Not ihre Kinder vom Unterricht fernhielten, weil sie zur Arbeit gebraucht wurden. Dr. König Schreibt:"Die Weiber spinnen des Morgens 8 bis abends 9 Uhr, und die Kinder, wenn die Schulstunden vorüber sind, treiben von Nachmittag vier bis abends 8 Uhr das Spulrad."
In einer Bittschrift aus dem Jahre 1816 machte der Osteroder Rechtsanwalt Dr. König die Kgl. Regierung in Hannover auf die miserablen wirtschaftlichen und sozialen Zustände in Hattorf aufmerksam. Und weil es anderswo sicherlich ähnlich zuging, ist dieser Bericht, den vor vielen Jahren August Böttcher veröffentlicht hat, ein besonderes Dokument.
Die Arbeit war unvorstellbar schwer, einen Feierabend im heutigen Sinne gab es nicht. Bis 8 oder 9 Uhr am Abend musste gearbeitet werden, und in aller Frühe ging es wieder los. Die Erträge aus dieser schweren Arbeit brachten nur sehr wenig ein. "Die Speisen, ihr Essen und Trinken, besteht in Brot, Kartoffeln, Wurzeln und einem leichten Bier". Dass Fleisch höchst selten auf den Tisch kam, versteht sich von selbst. Da war denn die Zeit des Schweineschlachtens eine willkommene Abwechslung in dem üblichen Nahrungs - Einerlei. Der Berichterstatter vergisst nicht zu erwähnen, dass der gelegentliche Branntwein die einzige "unnötige Ausgabe" ist. Wenn es trotz der schweren Arbeit zu großer Armut kam, lag das vor allem an dem Druck der Steuern und Abgaben. Immer wieder mussten sich die Bauern darum sorgen, dass ihre Arbeit nicht genug einbrachte, um die hohen Abgaben bezahlen zu können. Mit drakonischen Strafen wurde von dem unverschuldet Säumigen das Geforderte beigetrieben. Dr. König spricht mit großer Hochachtung von dem "übernatürlichen Fleiß" dieser Menschen und beklagt das "Kärgliche Leben". "Wäre es möglich, sich überhaupt dem Schlaf zu entziehen und sich Tag und Nacht zu quälen, so würden auch diese Menschen schweigen und nur für sich ihren Zustand beklagen".
Viele Hattorfer hatten große Schulden ansammeln müssen. Aber auch "die Gemeinde als Ganzes hat schon über 1500 Reichstaler Schulden aufnehmen müssen".
Diese elende Situation führt dazu, dass "die Menschen zugrunde gehen, ihr Leben kein Genuss, sondern eine Last ist". Wir können uns vorstellen, das diese Menschen oft verzweifelten, zumal es keinen Ausweg für sie gab. Wir wissen, dass sich die soziale Situation erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besserte.
Soweit festzustellen ist, hat die Gemeinde Hattorf diese Bittschrift in Auftrag gegeben, und Rechtsanwalt Dr. König hat mit Nachdruck und großem sprachlichen Aufwand auf die Verelendung der Menschen hingewiesen. Das klingt am Schluss seiner Bittschrift so: "Diese Menschen sind also in einen Zustand versetzt, welcher die Kultur und Bildung, auf welcher wir stehen, mit Scham, mit Entsetzen, mit dem höchsten Unwillen benennt. Sie selbst nennen sich Sklaven". Aber Dr. König weist darauf hin, dass selbst die römischen Sklaven nicht so hart arbeiten mussten wie diese Menschen, "welche auch mit für das edelste Gut, die deutsche Freiheit, gestritten und mit ihrem Blut erkämpft haben". Dr. König meint hier vor allem die Freiheitskriege, die Napoleons Ende besiegelten.
Geradezu dramatisch wird Dr. Königs Sprache am Ende: "Wenn man diese unglaublichen Lasten und Abgaben beobachtet, so zuckt jeder Lebensnerv in der Brust eines gefühlvollen Menschen. Wenn man sieht, wie die Unglücklichen ringen und streben, das alles zu leisten, wie sie allem Lebensgenuss entsagen und nur immer Tag und Nacht quälen, um als gehorsame Untertanen zu erscheinen, dann entfällt dem Menschenfreund eine Träne der Teilnahme für das redliche Landvolk".

Dieser Osteroder Rechtsanwalt Dr. König war übrigens eine sehr engagierte Persönlichkeit. Als die Revolution im Juli 1830 in Paris zum Sturz Karls X. führte, gab es auch im übrigen Europa revolutionäre Erhebungen und verfassungsstaatliche Bestrebungen. August Böttcher hat in diesem Zusammenhang mitgeteilt, dass Dr. König damals ebenfalls politisch couragiert Stellung nahm und "die Osteroder Bürgerschaft gegen die königliche Regierung aufwiegelte". Dr. König ist dafür zu langjähriger Zuchthausstrafe verurteilt worden.

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