„Der Beberteich“

von

Hermann Löns (1908)


 

Unstet und ruhelos ist das Land am Unterharz. Das macht der Gips, der unter dem Rotliegenden steht. Die Tagewasser sickern in ihn hinein, lösen ihn auf, höhlen ihn aus; eines Tages gibt die Rasenhängebank nach, der Acker sackt ein, der Wald rutscht hinab und ein trichterförmiger Erdfall, groß oder klein, bildet sich.

Viele solcher Erdfälle gibt es im schönen Unterharz, ganz kleine und ganz große, alte und frische, wassergefüllte und trockene, lange und schmale und breite und runde. Unter dem Beberschwanze zwischen Barbis und Silkerode gähnt einer mit breitem, rotem Maule aus der Feldmark heraus. Da soll vor hundert Jahren einem Bauern das ganze Gespann versackt sein. Andere sehen mit tiefen, blauen Augen zum Himmel, so der Jües bei Herzberg, den jeder Harzwanderer kennt. Einen aber kennt keiner der lustigen Bergfahrer, die im Sommer mit leichtem Sinn und leichtem Gepäck Wald und Berge durchstreifen, den kleinen Beberteich. Zu weit abseits von den belaufenen Wegen liegt er in der großen Einöde zwischen Scharzfeld, Barbis, Bartolfelde, Bokelnhagen, Zwinge und Brochthausen. Nur die Bauern kennen ihn, die Schäfer und die Jäger.

Er liegt auch in gar keiner dankbaren Gegend. Um ihn herum sind lauter sanfte, waldgekrönte Kuppen und nichts als Felder und Wiesen, dazwischen rote schattenlose Wege, tief aufgeweicht bei Westwind, knochenhart und schlecht zu gehen, wenn der Wind von Osten steht. Alles, was Schatten gab und Lieder, hat die Verkuppelung fortrasiert, die blühenden Obstbäume, die grünen Ellernbüsche an der Beber, die langen Birken an den Furten, die stolzen Tannen an den Brückenköpfen. Die Nachtigall zog fort aus dem kahlen Land und der Krebs starb im schattenlosen Wasser. Alles, was nicht bar Geld brachte, schlug man tot.

Ein paar krüppelige Bäume ließ man hier und da stehen und in den Schluchten die Dornen. Und wenn sich nicht ein Mann, der Augen für das Schöne hatte, der Gastwirt Kühnemund zu Barbis, schützend vor die beiden riesigen Zwillingsbuchen am Beberteiche gestellt hätte, dann hätte man auch sie totgeschlagen. Aber jetzt ist nur eine noch da; Hirtenjungen steckten die eine an und sie brach um. Und Kühnemund ist auch tot. Sie waren wunderbar, die beiden Riesen. Knorrig mit weiten Wurzeln die Erde packend, waren die Stämme. Jeder Stamm zwillte sich über der Wurzel und schoß zwei Bäume gegen den Himmel. Zwei Stämme und vier Bäume, vier gewaltige Bäume und eine riesige Krone, so standen sie da, bis die Mordbrenner von Jungens den einen umbrachten.

Jedesmal, ging ich dort vorbei, grüßte ich sie, die beiden Recken, die sich aus der bunten Zeit in die nüchternen Tage gerettet hatten. Es waren beseelte Bäume und wenn der Wind in ihren Kronen raschelte, der Sturm ihr Laub schüttelte, dann erzählten sie vergessene Geschichten aus uralten Tagen.

Elf Weiden mit silbergrauem Laube stehen um den Teich. Früher standen sie mehr nach dem Wege hin. Als aber die Axt und die Säge umgingen im Bebertale, da flüchteten die Elf verschüchtert fort von dem Wege und suchten bei den Buchen Schutz vor den Menschen, die Tag für Tag blutende Baumleichen über den Weg fuhren. Einer von den elf Weidenbäumen war ganz an die Buche herangekrochen, denn er wußte, daß ihn da auch der Blitz nicht fassen konnte. Jetzt sind die Weiden verwaist und schutzlos. Wer weiß ob man ihnen das bißchen Leben läßt.

Und der Teich ist nicht mehr das, was er vor einigen Jahren war. Seine Wächter sind tot, sein Reiz ist dahin, seine Schönheit verdorben. Er ist nichts mehr, ist ein Wasserloch, wie viele andere, eine langweilige Schaftränke. Einst war er voller Zauber. Ich will ihn nicht sehen, wie er ist. Aber ich sehe ihn, wie er war.

Oft, wenn die Sonne auf das Land sengte, habe ich unter den Buchen gesessen, die Büchse unter den Knien, den Hund neben mir, und habe auf den Teich gesehen. Giftgrüne Algen glitzerten auf dem blauen Spiegel, weißgrünes Kolbenrohr schwenkte die langen Blätter, Wasserjungfern flirrten hin und her.

Das war um die Mittagszeit. Dann lacht am Teich das blühende Leben. Im Rasen der Trift leuchten dann die hellen Sterne der Maßliebchen, die ausgelassenen Grauartschen tanzen zwitschernd hin und her, von der goldgelben Wolfsmilch zieht schwerer Honigduft und lockt die kleinen blauen Schmetterlinge heran, süß singt die Goldammer an dem knospenden Feldrosenbusch, die flinke Bachstelze und der schnelle Steinschmätzer schnappen nach Eintagsfliegen, Schwalben schießen dahin, die Krähen tränken sich, die Dorngrasmücke schwatzt, Drosseln und Stare fliegen hin und her. Manchmal kreischt ein Wasserhuhn lustig auf, ein dicker Frosch quakt behäbig, in den Kronen der Buchen flötet der goldne Pfingstvogel sein goldnes Lied.

Geht aber die Sonne unter, dann verliert der Teich sein Lachen. Zu viel Böses fällt ihm dann ein und er denkt daran, wie rotes Blut in ihn hineinfloß. Lang ist es her, aber er muß immer daran denken, wie die Bauern aus Königshagen hier vorbeikamen, einäugig, blutend, geschunden, mißhandelt, lahm und krüppelig. Mit stieren Augen, verzerrten Gesichtern, keuchender Brust und bebenden Lippen kamen sie aus dem Bebertal heraufgestürzt. Hier am Teiche machten sie halt, sogen das Wasser ein, sahen sich um nach der Gegend, wo die Kaiserlichen sengten und raubten, und flohen weiter, nach Barbis, Scharzfeld, Herzberg und Pöhlde.

Seit der Zeit steht kein Haus mehr dort. Weit und breit ist nur Wald und Feld. Aber im Rasen kann man noch Wall und Graben sehen, wo die Kirche stand. Im Warberg steht noch ein altes Steinkreuz und ab und zu stößt die Pflugschar auf Häuserreste.

Ungern geht der Bauer hier spät abends vorbei. Nach Sonnenuntergang ist mir da nie ein Mensch begegnet. Es riecht dort immer noch nach Blut und Brand. Und wenn der Wind geht, hört man Angstfluche der Männer und Wehgeschrei der Weiber aus den schwarzen Wäldern, die rechts und links über die Hügel sehen.

Ich bin so viel allein draußen gewesen bei dunklem Abend und schwarzer Nacht, daß ich das Grauen verlerne. Aber ich fuhr doch zusammen, als ich in später Stunde vor dem Teiche stand und über mir heiser der Reiher rief oder in der Haulung die Eule ihr Höllenlachen losließ.

Eines Abends, als ich, den Bock auf dem Rücken hier vorbeikam, mußte ich haltmachen. Die Luft war so dumpf, daß sie mir den Atem nahm. Aus allen Gräben krochen bleiche Nebel, über alle Berge schlichen schwarze Wolkengespenster, matt schimmerten die Sterne aus der dichten Luft und der Mond hatte ein Leichengesicht.

Todmüde war ich. Die Beine wollten nicht mehr, der Rücken brannte. Ich warf den Bock in das Gras und lehnte mich gegen die erste Buche. Die Teichfrösche grölten, die Laubfrösche meckerten, die Unken läuteten die Totenglocken.

Ich schickte meine Gedanken den Lebensweg zurück, alles Schöne und Liebe zu sammeln, was an der Straße gestanden hatte. Sie kamen mit vollen Händen wieder und reichten mir die Sträuße. Aber die Frösche riefen »Quark, Quark«, und bei jeder Blüte wieder: »Quark«. Ich warf alle Erinnerungsblumen in das Wasser und starrte gleichgültig auf die Flut. »Quark.«

Da fuhr es weich und warm über mein Gesicht. Mein Hund leckte mich. Ich lächelte. Er hatte seine große Freude heute gehabt, als er den Bock arbeitete und ich hatte mich an seiner Freude gefreut. Mir selber war die Jagd nur wenig noch, nur ein Mittel, draußen zu sein, und dem Hund eine Freude zu machen.

Der ist nun auch tot. Ich höre den Schuß noch, der seine Leiden endete. Und höre die Frösche rufen: »Quark Quark, alles Quark.« Und die Unken läuten die Glocken, und eine Eule heult. Und die eine Zwillingsbuche schreit auf, windet sich in Flammen und bricht krachend zusammen. Und unter dem Teiche bohrt das Wasser den Stein aus.

Die Buche ist verwaist, die Weiden werden sterben, der Teich versinkt im Felsengrab. Es wird nichts mehr da sein, als ein Loch, über dem in der Johannisnacht die Seelen der beiden Bäume umgehen, wie in grauen Stunden wehmütige Erinnerungen in den Herzen der Menschen, dann, wenn ringsumher die Frösche rufen: »Quark, Quark, Quark.«

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