Mitt. Verb. dt. Höhlen- u. Karstforscher
35(1/2)
71-76
München 1990

Die Kelle bei Ellrich am Südharz -
die Geschichte eines vergessenen Naturdenkmals

von
Fritz Reinboth

Es ist ein seltener Glücksumstand, wenn für eine Höhle über fast 400 Jahre in lückenloser Folge Beschreibungen vorliegen, die ihre Entwicklung und ihren Verfall nachvollziehbar machen. Bei einer Kalkhöhle ist dieser Zeitraum für nennenswerte natürliche Veränderungen zu kurz. Entwicklungsprozesse von Gipshöhlen dagegen können durchaus in historischer Zeit faßbar sein. Die einst gefeierte Schönheit der Gipshöhle »Kelle« zwischen Ellrich und Woffleben ist während eines halben Jahrhunderts vergangen. Die Kelle besteht heute als zwei durch eine Naturbrücke getrennten, großen Erdfällen; in der Südwand des südlichen der beiden Trichter öffnet sich unter weißer Felswand eine halboffene Grotte, deren Sohle zum größten Teil von einem Höhlenteich eingenommen wird. Noch vor 200 Jahren bildete der südliche Erdfall eine große Halle, von deren Eingang durch den nördlichen Erdfall die Naturbrücke übriggeblieben ist. Der heute noch vorhandene, im Grenzgebiet der DDR gelegene und damit z. Z. praktisch unerreichbare Rest mit dem tiefblauen Wasser in der dunklen Grotte mit den grünen Bäumen davor (F. Stolberg) zählt freilich immer noch zu den malerischsten Partien des Südharzer Gipskarstes.

Älteste Nachrichten
Die älteste Mitteilung über die Kelle entstammt einer Sekundärquelle und ist entsprechend unsicher. Der Nordhäuser Historiker Karl Meyer teilt in einer Schrift über das Kloster Ilfeld mit, daß zwischen 1348 und 1475 die Kelle in der sog. Holzleite eingebrochen sei1. Wahrscheinlich zog er diesen Schluß daraus, daß die 1348 urkundlich erwähnte Holczlyte 1475 als die Lyte oder jetzt das Kelholcz erscheint2. Die Angabe ist für uns nur bedingt zu gebrauchen, weil es neben der Höhle Kelle noch einen Erdfall »Alte Kelle« gibt, der für die Namensänderung Pate gestanden haben wird.

Die Frühzeit der Forschung: Eckstorm und Bertram um 1600
1591 finden wir die erste gesicherte Nachricht über die Kelle. Sie steht anhangweise in einem Brief über die Baumannshöhle, den der spätere Prior und Rektor der Walkenrieder Klosterschule Heinrich Eckstorm am 28. April 1591 an Zacharias Brendel, Professor der Medizin an der Universität Jena, richtete. Damals war Eckstorm noch Pfarrer im benachbarten Ellrich. Der Brief wurde 1620 im Rahmen einer Abhandlung Eckstorms über Erdbeben, in welcher er sich auch mit Erdfällen am Südharz beschäftigt, in Helmstedt veröffentlicht. Eckstorm beschreibt darin die Kelle recht präzise3:
Die Einwohner nennen die Höhle Neue Kelle, um sie von einem in der Nähe liegenden wassergefüllten Erdfall, der Alten Kelle, zu unterscheiden. Oben hat die Höhle ein natürliches Gewölbe. Ihre Länge, soweit sie geschätzt werden kann, beträgt 18 Ruten, wie sie die Landmesser benutzen (82 m), die Breite 16 Ruten zu 16 Fuß (73 m)4. Vom Eingang ist ein Hang bis zum Wasser hinunter; der Abstieg ist gefährlich und so tief, daß ein Mensch, der am Wasser steht, von oben wie ein Rabe erscheint. Das Wasser ist klar und ruhig, es steigt und fällt nicht. Es ist so kalt, daß es keine Fische oder Lebewesen darin gibt. Seine Tiefe könnte niemand erkunden. Mitten durch die Höhle ragen der Länge nach Felsen, welche das Wasser in der Mitte teilen. Wenn ein Stein über diese Felsen geworfen wird, so hört man ihn mit Geräusch in ein jenseitiges Gewässer fallen.

Eckstorm berichtet dann noch über eine nahegelegene Johanniskapelle, zu der früher von Ellrich aus Prozessionen durchgeführt wurden. Der Priester habe nach dem Gottesdienst das Kreuz in das Wasser der Kelle getaucht und den Gläubigen zugerufen: Kommt und kucket in die Kelle, dann kommt ihr nicht in die Hölle!
Erstaunlich sind die damaligen Kenntnisse über karsthydrologische Zusammenhänge. Eckstorm vermutet in seinem Erdbebenwerk keineswegs abwegig eine Verbindung zwischen dem Erdfall »Ochsenpfuhl« in Herzberg und der Rhumequelle5; sein Kollege an der Walkenrieder Klosterschule Zacharias Bertram erwähnt schon um 1601, wie sich ein Theil der Weida verleuret, unter sich inn die Erde feilet und bey Ellrich ann einem Ortt die Kelle genant wider herfür kommen sol, wie mann solches mitt eingeschüttetem Heckerling und anderm soll probirt haben6
Eckstorms Beschreibung der Kelle wird durch spätere Autoren weiterverbreitet, zunächst 1650 durch Zeiller in der Merianschen Topographie von Obersachsen7, besonders aber seit 1712 durch den Bestseller »Hercynia curiosa«8. Ihr Verfasser G. H. Behrens ergänzt, daß der hannoversche Generalleutnant v. Pudewels um 1675 dort Treppen anlegen ließ und Trinkgelage veranstaltete9. Vor Behrens hatte bereits 1701 E. Chr. Bohne den Text Eckstorms in seine Nordhäuser Chronik weitgehend übernommen; diese fand aber nur geringe Verbreitung10.

Forschungen im 18. Jahrhundert: Tolle, Ritter u. Brückmann
Eigenständige Forschungen unternahmen dagegen am Anfang des 18. Jahrhunderts der Rektor der Klosterschule Ilfeld, Tollius (Tolle11), und 1720 der dortige Konrektor Albert Ritter. Ritter ist durch viele Veröffentlichungen als gewissenhafter und zuverlässiger Naturforscher bekannt. So wie Eckstorms Angaben durch Zeiller und Behrens wurden Ritters Zahlenangaben besonders durch J. B. v. Rohrs »Merkwürdigkeiten des Oberharzes«, leider aber verstümmelt, weitergetragen12. Sie finden sich in dieser verstümmelten Form in vielen späteren Beschreibungen der Kelle wieder.
Viel präziser als v. Rohr berichtet der Wolfenbütteler Arzt F. E. Brückmann in seinem 72. Reisebrief 1738 über Ritters Untersuchungen, an denen er sich zeitweise selbst beteiligte, und fügt einen Plan als Kupferstich bei13. Der Plan (Abb. 1) ist nach Art Ritterscher Höhlendarstellungen ein Klappriß, wie ihn Brückmann nach einer Vorlage Ritters schon von der Einhornhöhle veröffentlicht hatte14; auch den Klinkerbrunnen hat Ritter ähnlich wiedergegeben15.

Abb.1:Die Kelle. Kupfertafel aus F. E. Brückmann: Epistola itineraria LXXII. - Wolfenbüttel 1738 (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel). Fig. I: AB Felswand, C Weg zur Höhle, D Abstieg in die Höhle, E Öffnung hinter dem Wasser, durch die man Steine in eine hintere Höhle werfen kann, FG Breite des Wassers, H Felsvorsprung, unter welchem die Wassertiefe am größten ist, I andere Felsvorsprünge, a größte Wassertiefe, b dessen Mitte, c geringere Tiefe, über die Rektor Tolle mit einem leichten Boot zu der Öffnung E zu kommen suchte. Fig. 111: a Alte Kelle, b deutet die Krümmung der offenen Höhle an, c weißes Wasser, d schwarzes Wasser. Die Fig. II, rechts oben, sollte vom Buchbinder »über die Höhle sauber eingeleimet« werden, damit ein Klappriß entsteht. Original: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel.

Daß Brückmanns Text gegenüber dem v. Rohrs unbekannter blieb, liegt wohl an der lateinischen Sprache, der sich Brückmann und Ritter als Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts bedienten. Brückmanns Bericht lautet (im Auszuge16):
Es war mir vergönnt, unter anderen Höhlen Europas auch diese Alte und Neue Kelle, auch Hölle genannt, zu besichtigen. Anno 1720 am 7. August befuhr ich sie mit dem getreuen Konrektor des Klosters Ilfeld am Fuße des Harzes, Herrn Albert Ritter, einem gewissenhaften und gelehrten Naturforscher, und einigen hoffnungsvollen Jugendlichen, die sich in dem berühmten Gymnasium der Weisheit und humanistischen Wissenschaften, von dem die Höhle eine Meile entfernt liegt, den Studien widmen17. Ich bemerkte, daß die innere Höhle etwa quadratisch ist; die ganze Sohle mit klarem Wasser gefüllt und überflutet, die von der Natur gebildete Decke anzusehen wie ein Mulden- oder Tonnengewölbe der Baukunst oder wie ein Kupferkessel. Die ganze Höhle besteht aus weißem Alabastergestein, einem Kalk- und Gipsgestein, das an verschiedenen Stellen mit einer grünlichen, an anderen braunen und wieder anderen schlammigen, mehlartigen Masse überzogen ist, die mir nichts anderes zu sein scheint als durch Zeit, Feuchtigkeit, Ausdünstungen, Luft, Regen und Unwetter in solches Pulver aufgelöster und calcinierter Alabaster und die leicht mit dem Finger abzukratzen ist; oder das Gestein ist nur weißer Gips. Die Steine sind durch von Erdbeben oder Gewitter und Stürme verursachte Erschütterungen verstreut und oft droht der Einsturz in wenigen Jahren.
Die Breite wurde zu 5 Ruten rhl. und 9 Fuß gemessen
(21,7 m), die Länge und Höhe war damit gleich, womit die gesamte Wasserfläche genau übereinstimmte. Die Öffnung der Höhle ist so groß und geräumig wie die Höhle selbst. Ein mit Bleistift kunstlos entworfenes Bild der Höhle siehe in der beigefügten Fig. 1 (Abb. 1). Der darin zu sehende Berg ist ganz und gar mit hohen Bäumen und Sträuchern bedeckt. Die Buchstaben d und e bezeichnen die Erhebungen ,des mit Gesträuch und Gehölz bedeckten sowie mit Erfällen und Erdsenkungen erfüllten Berges. Die Mächtigkeit des Felsens vom oberen Teil senkrecht vom Buchstaben A nach B ist 42 Fuß rhl. (13,2 m). Der Abstieg in die Höhle erfolgt durch eine geneigte Fläche von C bis D (bei C nämlich beginnt der Abstieg in die Höhle und ist in einer Höhe mit dem Felsen A) mit dem Maß 156 Fuß rhl. (49 m). Der Höhleneingang öffnet sich nach Osten und ist so groß wie die Höhle selbst. Das im Überfluß vorhandene Wasser ist hell und kristallklar. Am 13. November des Jahres war es viel unruhiger als sonst. Zu der Zeit stieg es mehr als ein Fuß an der Oberfläche gegenüber dem 7. August. Es ist ziemlich kalt, so daß man die eingetauchte Hand gleich steif vor Kälte zurückzieht, aber am 13. November war es viel wärmer. Ich warf lebende Frösche und kleine Fische hinein, aber sie lagen sofort erstarrt auf dem Rücken und konnten sich in der Kälte nicht mehr fortbewegen oder schwimmen. Das Wasser war in einem Glas über 6 Monate ohne eine Spur von Fäulnis bei Herrn Ritter in IIfeld aufbewahrt. Die Tiefe in der Mitte der Oberfläche lotete ich an verschiedenen Stellen zu 5-5-3 Faden, den Faden zu 6 Fuß rhl. gerechnet, und somit zu 30-24-18-15 Fuß rhl. (d. h. 9,4 bis 4,7 m). Ein kleines Insekt fand ich in jener Kälte schwimmen, das aber von mir nicht richtig bestimmt werden konnte, weil es alsbald in einer Gesteinsspalte verschwand.
Der Zufluß des Wassers erfolgt aus den Felsen und Gesteinsspalten, einen Abfluß konnte aber meines Wissens bisher niemand feststellen. Vielleicht fließt es in der Nähe und durch eine seitliche Öffnung des Gesteins in ein Loch im Berge und findet von dort an anderer Stelle einen Austritt. Dies Wasser ist im Winter nie zugefroren, es sei denn bei außergewöhnlicher Kälte, wenn schließlich die Luft durch den durch den Eingang kommenden Nordwind eine kaum messerrückendicke Eisschicht hervorruft, wie es der vorgenannte Ritter in den Jahren 1729 und 1732 beobachtete, als die außen befindlichen Gewässer mehr als eine halbe Elle dickes Eis zeigten; ferner wurde beobachtet, daß das Wasser am 13. November wärmer war als im Sommer.

Der erwähnte Ritter teilte mir brieflich folgendes mit: Das Wasser in der Höhle ist quadratisch, entgegen der Meinung des Herrn Dr. Ge. Hen. Behrens in der Hercynia curiosa S. 81 steigt und fällt es. Jener berühmte Konrektor hat beobachtet, daß der Wasserspiegel anno 1720 vom Sommer bis zum 13. November um mehr als 1 Fuß anstieg, dies war unschwer festzustellen, da er im Sommer den Wasserstand am Felsen mit einem Strich festgehalten hatte. An diesem Tage zog er die Hand auch nicht so vor Kälte steif zurück wie im Sommer; ferner empfand er die Luft zu dieser Zeit innen und außen als gleich. Am 13. November lief das Wasser in Tropfen aus den Spalten der Decke des Gewölbes der Höhle sowie der Felsen im Höhlenteich gleich wie ein Regen; diese Erscheinung wurde im Sommer nie beobachtet.
Tollius, einst Rektor des berühmten Ilfelder Gymnasiums, später Prediger in Moskau, ein hervorragender Mathematiker, ließ einmal einen Kahn in die genannte Höhle bringen, bestieg denselben mit dem Kücheneinkäufer jenes Klosters in der Absicht, mit dem genannten Manne an der Seite, an welcher das Wasser die geringste Tiefe zu haben schien, dicht am Felsen zum Ende der Halle zu fahren, wo zwei Öffnungen im Felsen zu sehen sind, um zu prüfen, ob nicht hinter den erwähnten Spalten weitere wassergefüllte Hallen zu entdecken seien. Wenn nämlich vom Eingang der Höhle Steine durch diese Öffnungen geworfen werden, so ist ein Geräusch zu hören, wie es ins Wasser geworfene Steine erzeugen. Als sie in das Boot gestiegen waren, wollte das leichte Fahrzeug die darin Sitzenden aus dem Bereich an die andere Seite, an der das Wasser am tiefsten ist, ziehen, so daß sie nur unter Lebensgefahr umkehren und von dort zurückkommen konnten und so das, was hinter der Öffnung E zu sehen ist, nicht erkunden konnten.
Die Luft inner- und außerhalb der Höhle fand ich beim Nachmessen außerhalb 201/2 Teilstriche über der gemäßigten Temperatur, innerhalb der Höhle aber 14 ½ Teilstriche darunter. So war der Gesamtunterschied der Luft innen und außen 35 Teilstriche
18. Das in das kalte Wasser getauchte Thermometer fiel zusätzlich um 3 Teilstriche. Am 13. November fand ich die Luft innen wie außen gleich ohne jeden Unterschied, das Thermometer zeigte in der Höhle keine Veränderung, kein Fallen, keinen Anstieg konnten wir feststellen.
In der rückwärtigen Höhlenseite ist eine Öffnung im Felsen, wo ein hindurchgeworfener Stein dem Geräusch nach zu urteilen ins Wasser fällt. Vielleicht besteht hinter diesem Loch noch eine Halle? Von den Musensöhnen, welche mit uns eindrangen, wurde einer ohnmächtig: ob er wohl die Höhlenluft nicht gut vertragen konnte? Mir selbst begannen beim Entschluß zur Umkehr und im Herausgehen die Lungen Röcheln und Schnarchen von sich zu geben.
Diese Höhle wird in der schönen Frühlingszeit und im Sommer vielfach von den Einwohnern der Städte Nordhausen, Ellrich und anderer sowie von den benachbarten Dörfern zur Erholung aufgesucht.

Der Dichterkreis um Göckingk an der Kelle 1770 - 1786
Am Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr die Kelle eine Blütezeit romantischer Verehrung. Als 1770 die preußische Kriegs- und Domänenkammer in Ellrich eingerichtet wurde, kam der (später geadelte) Dichter Leopold Friedrich Günther Göckingk als deren Leiter in die Stadt und hatte im sog. Neuen Haus unweit der Kelle eine Sommerwohnung. Da ihn der Dienst kaum ausfüllte, lebte Göckingk ganz seinen musischen Ambitionen, führte einen kleinen Musenhof und hatte neben manchem Kleinmeister der Dichtkunst den berühmten Gleim in seinem Haus zu Gast. Christoph August Tiedge, als Dichter der Urania später weit bekannter als Göckingk, weilte oft im Neuen Hause, ebenso Christiane vom Hagen, die ebenfalls Gedichte schrieb und auch die Kelle in einer Ballade verewigte. Wie schon der Leutnant Pudelwels ließ Göckingk die Kelle mit Treppen zugänglich machen und Holzfiguren aufstellen. Die einst berühmte Ballade Göckingks über die Kelle ist für uns heute schwer genießbar, für die Geschichte der Höhle darf sie indessen nicht übergangen werden, besonders der erklärenden Fußnote wegen, die der Dichter ihr beifügte19:
Die Kelle (ich weiß nicht, woher sie den seltsamen, unpoetischen Namen hat) ist eine große unterirdische Grotte, eine Stunde von Ellrich. Herr von Rohr hat sie in seinen Merkwürdigkeiten des Unterharzes beschrieben, aber ohne ein Gefühl für Schönheiten der Natur. Es mag hier genug seyn, nur dieses davon zu sagen, daß die Höhle in einem kleinen Eichen- und Buchenwalde liegt, womit eine Strecke von Bergen besetzt ist, die, nach der Mittagseite, aus hohen, weissen, sehr schroffen Felswänden bestehen, von deren Spitze man eine sehr schöne Landschaft übersieht. Im Bauch dieser Felsenberge ist die Kelle, man erblickt sie nicht eher, als bis man den Eingang gegenüber steht. Allein, um in die Höhle zu kommen, muß man einen steilen Weg von etwa 100 Schritten hinabgehen. Das Portal der Höhle ist ohngefehr 80 Fuß hoch, beynah eben so breit, oben mit herabhängenden Bäumen und Gesträuchen begränzt, das Ganze eine steile Felsenwand von alabasterartigen Kalkstein, in einen halben Zirkel ausgehöhlt, und oben etwas gewölbt. Durch diese hohe, weite Oefnung, sieht man von der Höhe in die Grotte selbst hinein. Ein schauerlicher Anblick! Durch das Portal, und durch eine zirkelförmige Oefnung in der Kuppel der Grotte, von etwa 6 Fuß Durchmesser, fällt ein mäßiges Licht hinein; die Strahlen brechen sich auf der Fläche des Wassers, womit der Boden größtentheils bedeckt ist; nach und nach unterscheidet man die verschiedenen Gruppen, und sieht im Hinter-Grunde einen gewölbten Felsen, der völlig der Beschreibung alter Dichter, von dem Eingange zur Höll' entspricht. Die Gewölbe der Baumannshöhle, und andrer solcher unterirdischen Grotten in Deutschland, sind inwendig größer und schöner, aber was den Anblick von aussen betrift, erreicht keine die Schönheit der Kelle. Reisende, die Italien gesehen haben, versichern, daß auch keine der welschen Höhlen einen so romantischen Eingang habe. Da immer mehr Kalksteine herabfallen, so wird endlich einmal das ganze große Gewölbe mit den darüber stehenden Bäumen zusammenstürzen. Die Oefnung, welche schon in der Kuppel entstanden ist, hat man umzäunet, damit das Vieh, welches hier weidet, nicht durchfalle. Die Höhle liegt kaum einen Büchsenschuß von Wülferode. Dies war sonst ein Dorf, ist aber jetzt ein bloßes Landhaus, das der Verfaßer im Sommer bewohnt. Freunde, die ihn hier besuchen, pflegt er gewöhnlich nach der Höhle zu führen, und unter den Buchen dem Eingange der Grotte gegenüber, einen Nachmittag mit ihnen zuzubringen, denn bey dem schwülsten Wetter ist es hier kühl, in der Höhle selbst aber läuft man große Gefahr, sich heftig zu erkälten.

Abb.2:Alter Eingang der Kelle. - Kupferstich von L. A. Darmstedt nach Zeichnung von C. G. Horstig, September 1800. Aus: C. G. Horstig: Tageblätter unsrer Reise in und um den Harz. Leipzig 1805.


Abb.3: Inneres der Kelle, 1935. Foto: Walter Schäfer.

Die Ballade selbst hat nur noch literaturgeschichtliches Interesse. Die Handlung ist frei erfunden: Ein Edelmann im nahen Wülferode hat zwei Kinder namens Adelheid und Fritz. Als sie ein uneheliches Kind erwartet, flieht Adelheid zu ihrem Bruder und verabredet sich mit ihm bei der Deckenöffnung der Kelle, um ihn dort um Hilfe zu bitten. Seine Verlobte, ein Fräulein Gertrud von Goltze, die von einer Schwester ihres Bräutigams offenbar nichts weiß, wird dort zufällig Zeugin seiner Trostworte:

Gib Dich zufrieden, gutes Herz!
Ich liebe Dich noch immer.
Nur häufe Schmerzen nicht auf Schmerz
und stille Dein Gewimmer.
Hier hast Du meine rechte Hand,
Dein Fritz wird treulich sorgen
Für Dich und Deiner Liebe Pfand,
Und alles bleibt verborgen.
Begreiflicherweise versteht Gertrud von Goltze dies falsch und stellt Fritz und seine unglückliche Schwester zur Rede. Nun überstürzen sie die Ereignisse:
Sie aber stieß mit voller Wuth
Ihm vor die Brust, und sagte:
Fort Bösewicht! bist Du noch kühl
Dabey, daß Dein ich spotte?
Fritz wich zurück und glitsch't und fiel
Hinab in diese Grotte.
Adelheid sinkt entseelt zu Boden. Gertrud eilt hinab in die Höhle und findet dort den sterbenden Verlobten und den Brief Adelheids, der das schreckliche Mißverständnis aufklärt. Sie geht ins Kloster
. . . und weint auf ihrer Zelle,
und starb. - Oft hör ich jetzt bey Nacht
sie trauern in der Kelle . . .
20.
Die Ballade Johann und Johanne oder der Einsiedler in der Kelle von Christiane vom Hagen ist ähnlich düster. Die Einleitung ist eher lyrisch:
Bei Ellrich liegt die Höhle; rings
umschirmt vom dunklen Haine;
Gebüsch bekränzt sie; rechts und links
ruhn grün bemooste Steine
In tiefe, weite Felsenkluft
gehts viele Klafter nieder
Ihr Hände der Natur erschuft
ein solches Werk nicht wieder!
Hinab zur Höhle schimmert bleich
nur soviel Sonnenhelle
Um uns in einen klaren Teich
aus unterirdscher Quelle
Zu spiegeln, wie wir trüb und bleich
am Felsenufer stehen. . .
Dem treulosen Liebhaber Johann erscheint die frühere Geliebte Johanne als Geist bei einem Stelldichein in der Höhle, was ihn so erschreckt, daß er beschließt, dort ein Einsiedlerleben zu führen. Johanne aber wird in der Kelle begraben21.
Der Begabteste aus dem Ellricher Dichterkreis, Christoph August Tiedge, schenkte uns über die Kelle kein lyrisches Werk, beschrieb sie aber in schönen Worten für einen Freund:
Vor einigen Tagen besuchte ich die durch Göckingks Romanze bekannte Kelle - eine häßliche Benennung für eine so schöne Darstellung der Natur! Sie soll für mich die Neptunsgrotte heißen. Diese Grotte ist eine tiefe weite Höhle mit dem mit Eichen und Buchen bewaldeten Kalkgebirge, der Kohnstein genannt. Göckingk, der in der Nähe ein Landhaus bewohnt, hat einen ziemlich bequemen Stufengang aushauen lassen, der zu der frischen klaren Quelle führt, die mit ihrer stillen Wasserfläche die ganze Höhle ausfüllt. Aber in der hohen Wölbung ist eine Öffnung angebracht oder entstanden, durch welche der Tag fällt und wie ein geistiges Mondbild auf der unbewegten Wasserfläche schwimmt. Tief hinten in der Höhle ist nichts als Wasser und Nacht. Man fühlt sich wie von der Unterwelt Nähe so schauerlich kalt umweht, daß man umhersuchen möchte nach der stygischen UfersteIle, wo der Kahn anlegt, in welchem der alte Fährmann die Seelen der Verstorbenen zu der Schattenwelt fährt. Dieser Quell stellt das schöne Bild eines stillen, tätigen Lebens dar; oben auf der Oberfläche heilige Ruhe, tief im Inneren aber waltet ein stilles, wirksames Leben22.
 

Nach der Vermessung von F. STOLBERG am 23.3.1920
Rekonstruktion nach Angaben von ECKSTORM, GÖCKINGK, DUVAL u.a.
F. Reinboth 1982
 
Abb.4:Rekonstruktion der Kelle um 1770 nach Stolbergs Vermessung und den literarischen Quellen. Zeichnung des Verfassers.

Der Verfall
Tiedge und Göckingk belegen für die Zeit ihres Aufenthaltes in Ellrich, d. h. zwischen 1770 und 1786, erstmals eine Deckenöffnung. Der Verbruch schritt offenbar rasch voran. Am 27. September 1800 besuchte der bückeburgische Oberkonsistorialrat Horstig die Höhle, der von einem »neuen« Einsturz des hinteren Gewölbes berichtet23. Diese Deckenöffnung verlieh der Kelle vor ihrem völligen Zusammenbrechen noch einmal zauberhafte Schönheit. Garl Duval, der Eichsfelder Wandersmann und Dichter, beschrieb die Höhle vierzig Jahre später:
Wenn man ganz allein im Inneren dieser schönen Grotte steht, so wird man von einem ganz eigenem, schauerlich süßen Grauen erfaßt. Rings um uns herrscht tiefe Grabesstille, welche nur von dem Geräusch der von der Decke fallenden Tropfen unterbrochen wird, dicht neben unsern Füßen ruhen die unheimlichen Wasser des Sees, über uns dehnt sich das hohe weiße Gewölbe, das schon an einer Stelle eingebrochen ist, aus, durch welchen Bruch das Blau des Himmels neugierig herabschaut. Zur Zeit, als Göckingk die Kelle besang, hatte die Öffnung der Decke nur sechs, vor fünf Jahren, als ich die Höhle wieder einmal besuchte, schon über 60 Fuß im Umfange. Durch diese Öffnung wird der Höhle ein herrliches Licht zugeführt, das auf den weißen Wänden vorzüglich schön reflektiert und jede Fackel entbehrlich macht24.
Als Duval diese poetischen Worte niederschrieb, war die Kelle wohl schon ein Trümmerhaufen, denn 1838 war nach Blumenhagen »seit einigen Jahren alles zusammengestürzt«25. Mit der Definition des »Umfanges« hat es Duval wohl nicht so genau genommen, denn Göckingk spricht eindeutig vom Durchmesser, der seinerzeit also etwa 1,90 m betrug. Die 60 Fuß Duvals sind wohl wirklich der Umfang, was einem Durchmesser von 19 Fuß, d. h. ca. 6 m entspricht. 1891 war nach der Beschreibung Girschners der alte Eingang zur Kelle noch als solcher bekannt, der in früheren Zeiten ein gegen 25 m hohes Portal war, durch herabgestürzte Felsmassen aber bedeutend niedriger geworden ist. Hat man dieses Felsenthor passirt, so gelangt man über wüst durcheinander geworfene Felstrümmer hinweg zu dem Hintergrunde der oben von da ab offenen Grotte, in welchem man einen kleinen See mit bläulich-grünem, krystallhellem Wasser erblickt. . .26.
Langsam versank die alte Größe der Kelle in Vergessenheit. Dem leistete F. Stolberg Vorschub, der 1919/1920 einen Plan der Höhle aufnahm (Abb. 4) und die Ruine als die ganze, von Behrens und Duval geschilderte Kelle beschrieb. Den alten Eingang bezeichnete er als »Kleine Höhle« oder »Naturbrücke«27.

Schluß
Die chronologische Betrachtung der Beschreibungen hat gezeigt, wie eine riesige, in den Dimensionen der Himmelreichhöhle vergleichbare, diese an Schönheit sicher weit übertreffende Höhle von 85 m Länge, wie sich aus Stolbergs Plan rekonstruieren läßt, von etwa 1770 an bis um 1830 zu dem heutigen Erdfall und Höhlenrest zusammenstürzte. Der Rekonstruktionsversuch (Abb. 4) beruht auf Stolbergs Vermessung von 1920, welche den hinteren Teil - das Gewässer hinter Eckstorms Felsenwall - und den stehengebliebenen Eingang zweifelsfrei erkennen läßt.
Das Beispiel der Kelle zeigt eindringlich die Entwicklung riesiger Räume im Gipskarst, aber auch deren raschen Verfall bei geringer Gesteinsüberdeckung, wie sie gerade im Südharz häufig ist. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich gegenwärtig in der Jettenstube der Jettenhöhle bei Düna ab. Die Verhältnisse sind ganz analog: die geringe Überdeckung, die fast alpine Großräumigkeit; Ausgangspunkt des Verfalls ist nicht der Eingang der Höhle, sondern der Gewölbescheitel im Inneren der Höhle. Auch hier wird der Verbruch in absehbarer Zeit die Gesteinsüberdeckung durchstoßen. Der restlose Verfall dieses Höhlenteiles zum Erdfall ist dann eine Frage weniger Jahrzehnte.

Quellenangaben und Anmerkungen
1)
Meyer, K.: Das Kloster Ilfeld (= Geschichte der Burgen und Klöster des Südharzes III). - Leipzig 1897, S. 62.
2)
Köhler, D.: Ilfelder Regesten, Nr. 295 und 533. - IIfeld 1932.
3)
Eckstorm, H.: Historiae terrae motuum complurium . . . Helmstedt 1620, S. 210 - 230 (Kelle: 227 - 230) (Übersetzung aus dem Lateinischen vom Verfasser).
4)
Umrechnungen alter Längenmaße nach Engel, F.: Tabellen alter Münzen, Maße und Gewichte. - 2. Aufl. Rinteln 1970. - Die Längenangaben Eckstorms sind offenbar viel zu groß.
5)
Eckstorm, a.a.O. S. 166: In bovinum lacum aqua mulla influit, effluit nulla: Nisi forte subterraneis meatibus illa deferatur ad Rhumae fontem (d. h. In den Ochsenpfuhl fließt viel Wasser, hinaus fließt keins: ob es nicht auf unterirdischen Wegen zur Rhumequelle gelangt? (1620!).
6)
Addenda zur Walkenrieder Chronik J. Letzners. Niedersächs. Landesbibliothek Hannover, Handschriftenabt., Ms. XXIII 612 a fol. 41 v.
7)
Z(eiller), M.: Topographia superioris Saxoniae, Thuringiae, Misniae, Lusatiae etc., Frankfurt (Merian) 1650, S. 175.
8)
Behrens, G. H.: Hercynia curiosa oder curiöser Hartz-Wald. - 2. Ausgabe Nordhausen 1712. Die sehr seltene Erstauflage (1703) ging bei einer Feuersbrunst größtenteils verloren.
9)
Pudewels war Kommandeur einer seit Michaelis 1675 für vier Jahre in Nordhausen liegenden hannoverschen Garnison. E. G. Förstemann: Chronik der Stadt Nordhausen. - Nordhausen 1860, S. 345.
10)Bohne, E. Chr.: Nordhäusische Chronica (Fragment). - Nordhausen und Leipzig 1701 (Neudruck Nordhausen 1901), S. 23.
11)Tolle, der 14 Sprachen beherrschte, war von 1701 bis 1704 als Rektor in Ilfeld. s. Duval, C.: Kloster Ilfeld. - In: Thüringen und der Harz, Bd. 4, S.191. Sondershausen 1841.
12)v. Rohr, J. B.: Geographische und historische Merckwürdigkeiten des Ober-Hartzes. - Frankfurt und Leipzig 1739, S. 153 f.
13)Brückmann, F. E.: Epistola itineraria LXXII. de Sylvae Hercynicae Antris Die Alte- und die Neue-Kelle, nec non Die Hölle vocatis. Wolfenbüttel 1738.
14)Brückmann, F. E.: Epistola itineraria XXXIV de antro Schartzfeldiano et Ibergensi. - Wolfenbüttel 1734.
15)vgl. Lommatzsch, H.: Erstberichte über Höhlen am Südwestrande des Harzes. - Heimatkalender des Kreises Osterode und des Südwestrandes des Harzes 1968, S. 22 - 24. Osterode.
16)Übersetzung aus dem Lateinischen vom Verfasser.
17)Die Klosterschule IIfeld bestand - zuletzt als Napola - bis 1945.
18)Wie v. Rohr mitteilt (a.a.O.), wurde ein sog. Florentiner Thermometer benutzt. Diese Weingeistthermometer hatten eine von der gemäßigten Temperatur (temperatum) bei etwa 18,5 °C ausgehende willkürliche Teilung von beiderseits 50 Strichen. Fixpunkte waren noch nicht festgelegt. Deshalb lassen sich die Temperaturangaben nicht genau nachvollziehen. Nimmt man an, daß die Wassertemperatur etwa 9 °C betrug, so läßt sich die Außentemperatur zu ungefähr 32 °C berechnen.
19)Göckingk, L. F. G.: Gedichte. Dritter Theil. - Frankfurt 1782, S. 144 f.
20)ebenda. Vollständig abgedruckt auch bei C. Duval: Die Kelle. - In: Thüringen und der Harz, 8. Bd., S. 288, Sondershausen 1844.
21)abgedruckt bei Duval a.a.O. (Anm. 20).
22)zitiert bei Heine, H.: Heimatbuch für Nordhausen und die Grafschaft Hohenstein. - Nordhausen o. J. (1909), S. 153 f. und Reichardt, R.: Die Kelle und ihre Umgebung. - Heimatland, 3. Jg. S. 108 - 111, Bleicherode 1906/1907.
23)Horstig, C. G.: Tageblätter unserer Reise in und um den Harz. - Leipzig 1809. Horstig lieferte nach Brückmann die erste bildliche Darstellung des Einganges der Kelle (a.a.O. Tafel XIII).
24)Duval, C.: Die Kelle. - In: Thüringen und der Harz, 8. Band
(Supplement), S. 281. - Sondershausen 1844.
25)Blumenhagen, W.: Wanderung durch den Harz. - Leipzig 1838, S. 184.
26)Girschner, W.: Nordhausen und Umgebung. Ein Handbuch und Wegweiser für Einheimische und Fremde. - Nordhausen 1891, S. 92 f.
27)Stolberg, F.: Die Höhlen des Harzes. - Magdeburg 1926, S. 18.


Wir danken der Schriftleitung der Mitteilungen des Verbandes deutscher Höhlen- und Karstforscher für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag ebenfalls veröffentlichen zu dürfen. Weiterer Nachdruck oder Veröffentlichung bzw. Verbreitung in anderen elektronischen Medien nur mit schriftlicher Genehmigung der Schriftleitung.

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