Der Schäfer- oder Leichenstein
- ein Findling an der Ührder Straße -


Ein ruchloser Schäfer vom Blitz erschlagen?

Die Wanderer, die Uehrde zu Fuß über die Osteroder Bergstraße erreichen wollen, passieren an der Alten Uehrder Straße nach etwa einem Kilometer auf dem Lausberg einen großen Findling, der als Schäfer- oder Leichenstein bezeichnet wird: Der Stein am Weg von der Bergstraße nach Uehrde. Die Inschrift um ein großes Kreuz lautet gegenwärtig: INRI / ANNO 16.0.9 /. Hans von [oder: Koon] /nei men / DEN XI MAY /vom wetter erschlagen. Auf der Rückseite findet sich ebenfalls ein Kreuz, das jedoch nur schwach zu erkennen ist.
1809 wurde im Neuen Hannöverschen Magazin dieser mit einem Kreuz versehene Stein beschrieben, "welcher einen vom Blitz erschlagenen Schäfer deckt(01). Darauf bezieht sich auch MITHOFF(02).
Der Chronist Renner teilt 1833 mit, dass auf dem Wege von Ührde nach Osterode auf dem Lausberge der aufgerichtete, 1 1/2 Fuß hohe Sandstein dort stand, wo der Sage nach ein ruchloser Schäfer vom Blitze erschlagen und begraben worden sei. An anderer Stelle schreibt Renner, dass das 1 Elle über der Erde herausstehende Kreuz nebst Jahreszahl zu erkennen war, während die Worte durch Verwitterung unlesbar waren. Der Sage nach liege unter diesem Steine ein ruchloser Schäfer begraben, der hier  "zwischen seinen Schaafen" erschlagen wurde(03).
Pfingsten 1956 wird im "Osteroder Kreis-Anzeiger" der Stein wiederum einem Schäfer zugeordnet. Der ungenannte Autor vermutet, dass es sich um jenen Hans von Einem handelt, der am 20.11.1607(04) [als 16. von insgesamt 20] Neubürger inOsterode geworden war(05).
In einem 1959 ohne Verfassernamen erschienenen, Zeitungsbeitrag ist zu lesen, dass dieses "Marterl" [in katholischen Gegenden Erinnerungsmal, das oft Martha darstellte, die Schwester des Lazarus(06)] für Hans von Einem auf freiem Feld etwa 180 Meter vom Weg entfernt gestanden habe. Ein Hinweis auf einen Schäfer findet sich hier nicht.(07).
Die Autoren Müller und Baumann geben 1988 an, dass der Schäfer während eines Gewitters frühstückte und dafür "bestraft" wurde. Der Stein habe bis etwa 1890 ca. 5 Meter von der Straße entfernt gestanden(08).
Zwei Verfasser erwähnen das auf der Rückseite des Steins eingetiefte Kreuz (03, 08).
Schäfer galten als selbstbewußte, unabhängige Menschen. Nach dem "Sachsenspiegel" waren sie vom Heeresdienst befreit, um immer bei ihrer Herde bleiben zu können(09). Gute Hunde unterstützten sie beim Hüten.
Warum mag der, dem dieser Stein galt, als "ruchlos" - also  ehrfurchtslos - bezeichnet worden sein? Zu essen, während Blitz und Donner tobten, verstieß seinerzeit und bis weit in das 20. Jahrhundert gegen die guten Sitten. Der Tod durch Blitzschlag wurde als gerechte Strafe Gottes empfunden.
Oder hatte Hans von Einem die ihm anvertrauten Schäfchen nicht ins Trockene gebracht, als sich das Gewitter ankündigte? Daraus schlossen die Menschen jener Zeit, dass es ihm an der "Respekt" vor Blitz und Donner fehlte. Möglicherweise irrten die hilflosen Schafe blökend umher, so dass Frauen und Männer bei der Feldarbeit - vielleicht  erst Tage später- auf ein ungewöhnliches Geschehen aufmerksam wurden.
Im Göttinger Tageblatt bringt 1961 ein ungenannter Autor das steinerne Denkmal, das er als Sühnekreuz bezeichnet, mit einem vom Blitz erschlagenen Forstadjunkten in Verbindung(10). Eine ähnliche Erwähnung fand sich anderweitig nicht.
Bei der Deutung des Namens Neimke sind sich die Autoren einig: Es handele sich um ein Mitglied der weitverzweigten Familie von Einem. Dieser Name kommt seit dem 15. Jahrhundert in Osterode vor(10). [Von Einem wurde: abgeleitet von dem Ortsnamen Einum b. Einbeck, erste Erwähnung 1212 in Hildesheim(11).]
Ein Eintrag im Kirchenbuch der St. Aegidienkirche von 1609 deutet eher auf die erste Version hin, einen Schäfer betreffend: "Den 4. May ist Hans Neimke ausgegangen auf sine Wisen und Feldhern und nachdem er sie wie ..... und wider auf dem Himberge gebracht ist er vom Wetter hernied geschlagen und alsbald da blieben"(12).
"Sie...wider..." könnte sich auf Schafe beziehen, die auf Wiesen und Feldern gehütet wurden. Der "Himberg" mag damals eine gebräuchliche Flurbezeichnung gewesen sein. In den beim Katasteramtes Osterode vorliegenden Karten taucht sie nicht auf. Nach diesen Angaben ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es sich um einen Forstadjunkten handelte.
Die Angehörigen des vom Blitz Erschlagenen ließen wohl später den Stein setzen, um Gott zu versöhnen. Der darauf eingetiefte Tag des Unglücks [4. Mai] und der im Kirchenbuch dokumentierte [11. Mai] differieren um eine Woche. Möglicherweise ließ sich das Geschehen nachträglich nicht mehr genau datieren.
Auf dem Weckenberg(13), im freien Feld, soll der Stein früher 180 m(07) und später 5 m(08) westlich der heutigen Straße entfernt gestanden haben. Um 1890, nach dem Abschluß der Verkoppelung, erhielt er seinen Platz auf der Westseite der Alten Uehrder Straße(08). Nach 1961 versetzte man ihn in deren östlichen Randstreifen.
Mit diesem Standort wurde das Kulturdenkmal "Leichenstein" in die deutsche Grundkarte eingetragen(14).
Am Weg nach Uehrde, am östlichen Straßenrand überragt der etwa 90 cm hohe Quarzit-Findling seinen Sockel aus kleineren vermauerten, zum Teil gespalteten Quarzit-Geröllsteinen, den sog. Sösekieseln(15). Er weist in der unteren Hälfte eine Einschnürung auf. Hier beträgt der Umfang 116 cm. Auf seiner nach innen gewölbten Breitseite, die dem Feld zugewandt ist, läßt sich schwach ein 50 cm großes, grob gemeißeltes Kreuz erkennen. Weitere Zeichen sind nicht [mehr?] zu erkennen.
Auf seiner nach außen gewölbten Breitseite, die der Straße zugewandt ist, umgeben deutlich sichtbare gemeißelte, tanzende, uneinheitliche Buchstaben unterschiedlicher Schriften ein mittig eingetieftes 52 cm hohes Kreuz. Beide Kreuze ähneln den lateinischen (Passions-)Kreuzen(6).
Der Text und das Kreuz auf der Vorderseite könnten mehrfach nachgeschlagen worden sein(15). Möglicherweise wurde die Inschrift dabei verändert, denn gegenwärtig ist dort "Hans Koon neimen" zu lesen.
Um 1960 restaurierte der ortsansässige Bildhauer Georg Kirchner letztmalig die Frontseite im Auftrag der Feldmarksgenossenschaft Osterode(16).
An seinem jetzigen Standort wird der Schäfer- oder Leichenstein von zwei Ruhebänken und schattenspendenden Linden flankiert.

Von hier aus bietet sich ein ungewöhnlicher Rundblick: Die offene Feldflur wird von den ausgedehnten Waldgebieten Osterfeld, Moosberg, Lichtenstein, Westerhöfer Wald und Uehrder Berg umrahmt.
Buschwerk und Obstbäume bereichern die Landschaft. Von hier aus kann der Blick in Richtung Kirchenruine des einstigen Dorfes Möttlingerode schweifen, die sich auf dem Berg in Höhe der Häuser am Feldbrunnen erhebt.
Möge der Schäfer- oder Leichenstein weitere Jahrhunderte an seinem jetzigen Standort an ein dramatisches Geschehen erinnern.
In der Umgebung des Schäfersteins, am weiteren Weg nach Uehrde, gedeihen Heckenrosen, die wohl nur hier im Juni so kräftig rosa blühen. Im Herbst tragen die Sträucher unzählige prächtige Hagebutten. Bäume, meist knorrige Apfelbäume, begleiten den Wanderer bis zum Eichenwäldchen, durch das er sein Ziel erreicht, das ehemalige Stadtdorf Uehrde.
Der Schriftleiter des Heimat- und Geschichtvereins Osterode, Herr Hans-Arnold Pöhling, fand Daten heraus und der Steinbildhauermeister, Herr Ewald Müller gab fachliche Hinweise. Herr Stadtarchivar Ekkehard Eder beschaffte einschlägige Literatur. Im Katasteramt halfen mir Herr Günther Friedrich und Herr Uwe Lange, Herr Ernst Biermann steuerte mündliche Informationen bei. Allen danke ich für ihre Unterstützung.

GPS-Koordinaten
N51.7182° E 10.2330°

Quellen und weiterführende Literatur

01. Neues Hannöversches Magazin, 18. Jahrgang, Schlüter, Landschaftl. Buchdrucker, Hannover, 1809;
02. H. W. H. Mithoff: Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen, Helwing'sche Hofbuchhandlung Hannover, 1873;
03. J. G. Fr. Renner: Chronik von Osterode am Harz, 1833 - 1834, Sorgesche Buchhandlung, Nachdruck 1977;
04. Vom Blitz erschlagen, OKA, Pfingsten1956, Stadtarchiv Osterode, Nachlaß Schimpf, Nr. 91;
05. Dr. Martin Granzin: Osteroder Bürgerbuch 1600 - 1919, Heinz Heise Verlag, Göttingen, 1978;
06. Knaurs Lexikon AZ, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knauf Nachf. München-Zürich, 1954;
07. Gedenkstein 350 Jahre alt, Zeitungsartikel vom 6. 10.59, Stadtarchiv Osterode, Nachlaß Schimpf, Nr. 91;
08. Werner Müller/Günther E. H. Baumann: Kreuzsteine und Steinkreuze in Niedersachsen, Bremen und Hamburg, Verl. C. W. Niemeyer, Hameln, 1988;
09. Rudi Palla, Das Lexikon der untergegangen Berufe , Eichhorn Verlag, Frankfurt am Main, 1998;
10. Drg.: Auf dem Felde "vom Wetter erschlagen", Göttinger Tageblatt, 8./9. April 1961;
11. Hans Bahlow: Deutsches Namenlexikon, Godrom-Verlag, Bayreuth, 1967 bzw. 1980;
12. Kirchenbuch der St. Aegidienkirche Osterode;
13. Urkarte des Liegenschaftskatasters (alte Flurkarte) von 1878, Katasteramt Osterode;
14. Deutsche Grundkarte 1:5000, DGK 5, Blatt 4227/27, Katasteramt Osterode;
15. Auskunft des Steinbildhauermeisters Herrn Ewald Müller, Osterode;
16. Auskunft von Herrn Ernst Biermann, ehem. Vorsitzender der Osteroder Feldmarksgenossenschaft.
 

Text:
Ingrid Kreckmann
Fotos:
Detlef Tront

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