Das Schickert-Werk in Bad Lauterberg – ein Kapitel Harzer Rüstungs- und Industriegeschichte
 

Einführung

Von 1941 bis 1945 wurde von der Otto Schickert & Co. KG (Osco), München, am nördlichen Ortsausgang von Bad Lauterberg im Odertal eine Fabrik zur Herstellung von 85%igem Wasserstoffperoxid (H2O2 – Tarnname T-Stoff) betrieben. Es diente in der Rüstungsindustrie des Dritten Reichs als Energiequelle für Raketentriebwerke, U-Boot-Turbinen, Torpedoaggregate und als Starthilfe für Flugzeuge. Zu Kriegsende bestanden Pläne, die Produktion chemischer Kampfstoffe aus dem vom Vormarsch der Roten Armee bedrohten Raum Breslau (Werk Dyhernfurth/Oder) in das Werk Lauterberg zu verlegen.


Abb. 1: Schickert-Werk Bad Lauterberg,
Blick von Norden über die Werksanlagen auf den Bischofshals, 1942
(Foto Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)

Im Anschluss an die Demontage der Fabrikationsanlagen 1947 wurde das Gelände teilweise von kleineren und mittleren Gewerbetreibenden genutzt. Mit Wirkung vom 1.8.1990 wurde der südliche Teil durch die Stadt Bad Lauterberg von der Industrieverwaltungsgesellschaft AG, Bonn/Bad Godesberg, erworben. Die Stadt brach die verbliebenen Produktionshallen ab und wandelte das Gelände in eine Freifläche um.
 

Recherche

Die grundlegenden Recherchen für vorliegende Arbeit wurden 1990/91 im Rahmen einer vom Niedersächsischen Umweltministerium, Referat für Rüstungsaltlasten, in Auftrag gegebenen historisch-deskriptiven Untersuchung zur Gefährdungsabschätzung hinsichtlich Rüstungsaltlasten für das ehemalige Fabrikgelände der Otto Schickert & Co. KG Bad Lauterberg vorgenommen (SCHNEIDER et al. 1991). Wertvolle Auskünfte gab Heinrich Kruse †, der während der Kriegsproduktion im Schickert-Werk Bad Lauterberg als Bauleiter für die Errichtung des Werks zuständig war. Dr.-Ing. Werner Piening †, der ehemalige stellvertretende Direktor des Schickert-Werks Bad Lauterberg, verstarb bedauerlicherweise am 13.11.1990, kurz vor dem geplanten Zeitzeugengespräch. Jürgen Müller †, Osterode am Harz, stellte Fotografien und Unterlagen sowie Quellenhinweise zur Verfügung. Auch die Heimatforscher Hans-Heinrich Hillegeist und Helmut Lüder, Archivgemeinschaft Bad Lauterberg, gaben wertvolle Hinweise. Herrn Lüder gilt ein besonderer Dank für die Zurverfügungstellung der Abbildungen.
 

Geschichte des Standorts

Der Standort befindet sich im Stadtgebiet von Bad Lauterberg, strategisch günstig im Odertal in einer Talschlaufe an einem in nordwestsüdöstlicher Richtung verlaufenden Sporn des Kummels (Bischofshals) am nördlichen Stadtrand. Das Gelände wird westlich von Hochwald, östlich direkt von der parallel zum Werk verlaufenden Bundesstraße 27 begrenzt. Das gesamte Areal umfasst eine Grundfläche von 41 ha, davon 29 ha bewaldeten Steilhang. Das Werksgelände liegt in einer Höhenlage von ca. 312 m.
Diese Lokation wurde u. a. deshalb gewählt, weil mit der nahen, 1930 - 1933 errichteten Odertalsperre ein großer Kaltwasserspeicher zur Verfügung stand. Auch bot die topographische Lage direkt unterhalb eines Steilhangs in einem engen Tal einen größtmöglichen Schutz vor Luftangriffen.
Insgesamt erstreckte sich die Werksanlage über eine Länge von 700 m bei einer Breite von 150 m. Der ganze Komplex bestand aus ca. 100 Gebäuden inklusive der Luftschutzstollen, Wohnbaracken und Werkswohnungen. Außerdem gab es im Sperrluttertal ein zum Werk gehörendes Außenlager für Steinzeugmaterialien wie z.B. Elektrolysewannen.
Der Umfang der Anlage äußerte sich auch in der imposanten Größe der ehemaligen Produktionshallen. Die Grundfläche der einzelnen Hallen betrug 3857 m² bei einer Höhe von ca. 15 m. Das Turmgeschoss erreichte die Höhe von 24 m über Flur.
 

Betriebsphase I: Stuhlfabrik Gebrüder Angerstein und Möbelfabrik Odertal GmbH

Die topographische Situation des späteren Schickert-Werksgeländes um 1876 (Messtischblattbasis) zeigt die geologische Karte von KAYSER (1884) – das gesamte Gelände war "grüne Wiese" bis auf ein einzelstehendes Forsthaus im späteren Firmenbereich gegenüber des Flößwehrs.
Eine erste industrielle Nutzung für einen Teil des späteren Geländes des Schickert-Werks datiert auf 1897. In diesem Jahr wurde die Stuhlfabrik Gebrüder Angerstein gegründet, die im Jahr 1913 in die Odertaler Möbelfabrik GmbH umfirmierte und bis kurz vor dem 2. Weltkrieg produzierte (RÖGER 1983).
 

Betriebsphase II: Otto Schickert & Co. KG

Nachdem die Alliierten nach 1945 die große militärische Bedeutung der Anlage in Bad Lauterberg erkannt hatten, wurden ausführliche geheimdienstliche Untersuchungen angestellt. Alle folgend gemachten Ausführungen basieren, sofern nicht auf andere Quellen verwiesen ist, auf fünf britischen CIOS- und BIOS-Reports (ERIKSON et al. 1945, HICKSON et al. 1945, WOLDENBERG & WHITE 1945, DAVIDSON et al. 1946, HULLAND et al. 1946). Speziell der BIOS Final Report No. 599 (HICKSON et al. 1945) beschreibt auf Grundlage einer 7-tägigen Untersuchung vor Ort auf 169 Seiten sehr detailliert die Verfahrenstechnik und Prozessabläufe sowie die apparative Ausstattung. Alle übrigen BIOS- und CIOS-Reports beschreiben das Schickert-Werk generell und behandeln Details wie Gebäudesubstanz, Betriebsstruktur, Werkschutz etc. In ihnen wird die chemische Technologie nur sehr oberflächlich und teilweise widersprüchlich dargestellt.
Ein erstes militärisches Interesse an hochkonzentriertem Wasserstoffperoxid bestand bereits während des 1. Weltkriegs. Man war aber technisch zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, eine großtechnische Produktion zu starten, da weder geeignete korrosionsbeständige Materialien zur Verfügung standen noch Kenntnisse über die Eigenschaften des hochkonzentrierten Wasserstoffperoxids in Hinblick auf seine chemische Beständigkeit vorlagen. Diese Umstände veranlassten den Ingenieur Albert Pietzsch, Direktor der in Höllriegelskreuth angesiedelten Elektrochemischen Werke München, zu einem langfristig angelegten Forschungsprogramm in der Hoffnung, eine spätere großtechnische Produktion von hochkonzentriertem Wasserstoffperoxid realisieren zu können. Der Chemiker Dr. Gustav Adolph und der Ingenieur Albert Pietzsch hatten bereits ab 1911 mit dem nach ihnen benannten Verfahren Wasserstoffperoxid industriell hergestellt und entwickelten auf diesem Sektor eine Monopolstellung. Albert Pietzsch sowie sein Schwager und Chefchemiker Dr. Adolph leiteten das Unternehmen; beide hielten je eine Beteiligung von 24 %. Das Gesamtkapital der Elektrochemischen Werke München lag bei 2.000.000 Reichsmark. Eine weitere Beteiligung von 28 % hielt die Schweizer Firma Merck.
Durch die Entwicklung verschiedener rostfreier Stahlsorten durch Krupp in der Zeit von 1920 - 1929 standen mit V2A-, V4A- und V14A-Stahl erstmals geeignete Materialien zur Verfügung, die die chemische Stabilität von Wasserstoffperoxid-Lösungen nicht beeinflussten. Speziell der polierte V14A-Stahl erwies sich als besonders geeignet. Nachdem man Wasserstoffperoxid-Lösungen durch Zugabe von Stabilisatoren in Form von Natriumpyrophosphat und Phosphorsäure bei 60 °C und später bei 70 °C stabil halten konnte, wurden im Labor Wasserstoffperoxid-Lösungen von anfangs 60 % und später dann von 80 und 90 % Konzentration erreicht.
Durch die gleichzeitige Entwicklung von Kunststoffen wie Koroseal und Polyvinylchlorid standen nun auch geeignete Materialien für Rohrleitungen und Dichtungen zur Verfügung. Damit waren für die Elektrochemischen Werke München die Voraussetzungen einer großtechnischen Produktion von Wasserstoffperoxid gegeben.
1934 kam von Hellmuth Walter, Kiel, die Anfrage an Pietzsch nach 50%igen Wasserstoffperoxid-Lösungen. Walter hatte den Plan, diese zwecks Energiegewinnung für militärische Zwecke zu nutzen. Der bis 1935 als freischaffender Ingenieur bei der Germania-Werft in Kiel beschäftigte Walter war im Auftrag des Oberkommandos der Marine mit der Entwicklung einer Gasturbine beauftragt. Er erkannte bereits im April 1933 auf der Suche nach einem neuen Brennstoff für unter Wasser einsetzbare Triebwerke das Wasserstoffperoxid als einen hervorragend geeigneten Sauerstoffträger. Im Frühjahr 1934 kam erstmals der Gedanke auf, Wasserstoffperoxid als Raketentreibstoff zu verwenden. Am 1.7.1935 gründete Walter eine eigene Firma, die sich speziell mit den Möglichkeiten der Energiegewinnung aus Wasserstoffperoxid beschäftigte (KRUSKA 1955).
Pietzsch war von der Idee, Wasserstoffperoxid zur Energiegewinnung zu nutzen, begeistert und unterstützte die Versuche von Walter tatkräftig. Er bot ihm eine 80%ige Wasserstoffperoxid-Lösung an, die für diese Zwecke geeigneter erschien. Darüber hinaus unterstützte er mit seinen Mitgesellschaftern Dr. Adolph und der Fa. Merck die Arbeit von Walter mit 400.000 Reichsmark.
Mitte der 1930er Jahre wurde die Kriegsmarine auf diese Entwicklungen aufmerksam und stellte für Forschung und Entwicklung 20 Mio. RM zur Verfügung.
Im Jahr 1935 begann Walter mit der Entwicklung eines Triebwerks als Starthilfe für Flugzeuge, bei dem er 80 - 85%iges Wasserstoffperoxid durch Calciumpermanganat bzw. Natriumpermanganat als Katalysator zur Reaktion brachte. Bei dieser exothermen Zersetzung von Wasserstoffperoxid bildete sich ein Gas-Dampf-Gemisch aus 480 °C heißem Wasserdampf und großen Mengen freien Sauerstoffs. Das entstehende Gas-Dampf-Gemisch konnte zum Antrieb einer Turbine genutzt werden. Da die katalytische Zersetzung des Wasserstoffperoxids ohne sichtbare Verbrennung abläuft, wurde dieses Verfahren von Walter als "Kaltstrahlverfahren" bezeichnet.
Ein weiteres von Walter entwickeltes Verfahren war das "Heißstrahl-Verfahren"; hierbei wurde der bei der katalytischen Zersetzung des Wasserstoffperoxids freiwerdende Sauerstoff zur Verbrennung von Treibstoff genutzt. Dabei stiegen die Temperaturen in der Brennkammer bis auf 2000 °C an, so dass durch Einspritzen von Wasser in die Brennkammer gekühlt werden musste. Das dabei sofort verdampfende Wasser führte zu einem Druckanstieg auf 36 - 40 Atmosphären in der Brennkammer; diese freiwerdende Energie konnte in Schubkraft umgesetzt werden (LUSAR 1971).
Nach diesem Prinzip entwickelte Walter Starthilfen für Flugzeuge, Raketentriebwerke, U-Boot-Turbinen und Antriebsaggregate für Torpedos. An der Entwicklung einer Gasturbine für U-Boote war auch der Marinebaurat Dr. Werner Piening beteiligt, der später technischer Direktor des Schickert-Werks in Bad Lauterberg wurde.
Die von Walter entwickelten Verfahren und Triebwerke waren für die militärtechnische Entwicklung von außerordentlicher Bedeutung. Da alle diese Antriebe auf hochkonzentriertes Wasserstoffperoxid als Energiequelle angewiesen waren, wird die militärische Bedeutung der Herstellung von hochkonzentriertem Wasserstoffperoxid verständlich.
 

Gründung, Errichtung und Produktion

Im November 1938 wurde die Otto Schickert & Co. KG (Osco) als Tochtergesellschaft der Elektrochemischen Werke München (EWM) in Berlin gegründet. Die Aufträge zum Bau und Betrieb der Anlage in Bad Lauterberg ergingen 1938/1939 durch das Reichsministerium für Luftfahrt. In den Werken Bad Lauterberg und Rhumspringe sollte Wasserstoffperoxid in einer Konzentration von 80 - 85 % nach dem Pietzsch-Adolph-Verfahren der Elektrochemischen Werke München hergestellt werden. Die geplante Produktionskapazität der Gesamtanlage sollte 1200 Monatstonnen 80%iges Wasserstoffperoxid betragen.
Die gesamte Anlage gliederte sich in fünf identische, unabhängig voneinander arbeitende Produktionseinheiten zur Herstellung von 35%igem Wasserstoffperoxid. Jede dieser fünf Hallen hatte eine Kapazität von 240 Monatstonnen, bezogen auf hochkonzentriertes, 80%iges Wasserstoffperoxid.


Abb. 2: Luftaufnahme des Schickert-Werks Bad Lauterberg.
Links im Bild die Produktionsanlagen, im Zentrum der Lagerkomplex
(Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)

Die Wasserstoffperoxid-Produktion nach dem Verfahren von Pietsch & Adolph (auch Münchner Verfahren genannt) erfolgte in einem dreistufigen Kreislaufverfahren, wobei alle benötigten Chemikalien in einem geschlossenen Kreislauf verblieben. Die wesentlichen Ausgangsstoffe waren dabei Ammoniaklösung, Schwefelsäure und Wasser:

  • Schritt 1 (Elektrolyse): In der Elektrolyse wurde Ammoniumhydrogensulfat ((NH4)HSO4) in saurer Lösung in Ammoniumperoxodisulfat ((NH4)2S2O8) überführt.

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  • Schritt 2 (Umsetzung): Das Ammoniumperoxodisulfat ((NH4)2S2O8) wurde dann mit Kaliumhydrogensulfat (KHSO4) umgesetzt. Das dadurch entstandene, schwerlösliche Kaliumperoxodisulfat (K2S2O8) fiel aus und wurde abzentrifugiert. Die bei der Umsetzung entstandene Ammoniumhydrogensulfatlösung ((NH4)HSO4) wurde gereinigt und konnte in Schritt 1 wieder eingesetzt werden.

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  • Schritt 3 (Hydrolyse und Destillation): Das Kaliumperoxodisulfat (K2S2O8) wurde nun mit starker (60%iger) Schwefelsäure gemischt und in Kesseln unter Vakuum hydrolysiert.

Das dabei entstandene 35%ige Wasserstoffperoxid (H2O2) verließ nun als Zwischenprodukt die Hallen in Richtung Abfüllstation und wurde dort in einem weiteren zweistufigen Prozess durch Destillation und Rektifikation auf das 85%ige Endprodukt aufgearbeitet. Das feste Kaliumhydrogensulfat (KHSO4) wurde von der Schwefelsäure abzentrifugiert, die Säure gereinigt und beide Stoffe kehrten in den Prozess zurück. Bei dieser Reinigung der Schwefelsäure und auch bei der Reinigung (Neutralisation) der Elektrolytflüssigkeit fiel als Prozessrückstand der sog. Blauschlamm an. Dieser wurde nach seiner Entwässerung thermisch behandelt und dabei in eine Schlacke umgewandelt, die anschließend extern wieder aufbereitet wurde, da sie Platinanteile aus den Elektrolyseanoden enthielt.
Die Bauplanungen für die Anlage Bad Lauterberg, die den Tarnnamen "Anlage Z" hatte, wurden seit August 1938 von dem Architekten Proebst aus Ingolstadt durchgeführt (Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 180 Hildesheim, Akte Nr. 5126).
1940 trat Dr. Werner Piening als technischer Leiter und stellvertretender Direktor in die Schickert-Werke ein. Nach seiner Aussage war der bayerische Industrielle und Firmeninhaber Otto Schickert der Schwiegersohn von Pietzsch, dem Direktor der Elektrochemischen Werke München in Höllriegelskreuth. Ebenfalls 1940 erhielt der Wehrwirtschaftsführer und engagierte Nazi Albert Pietzsch die Ehrendoktorwürde.
Dr. Werner Piening, ursprünglich dem Oberkommando der Marine in Berlin unterstellt, war vom Militär eingesetzt worden, während Otto Schickert die Firma nur der Öffentlichkeit gegenüber vertrat. Die Firma Otto Schickert & Co. KG war eindeutig ein streng geheimes militärisches Objekt, das auch vom Deutschen Reich finanziert wurde. Nach Dr. Werner Piening wurde zwischen ihm und der Dienststelle Canaris, der deutschen Abwehr, diese Art der Tarnfirmierung für die Werke in Bad Lauterberg und Rhumspringe festgelegt.
Während der letzten Kriegsjahre war Dr. Werner Piening als Konstruktionschef maßgeblich an der Entwicklung der Walter-U-Boote in Kiel beteiligt und daher jeweils nur eine Woche im Monat in Bad Lauterberg.
Die erste Halle mit einer Produktionseinheit zur Herstellung von 35%igem Wasserstoffperoxid war im Januar 1941 fertiggestellt. Ebenfalls im Januar desselben Jahres wurde auch die als "A-Station" bezeichnete zentrale Anlage zur Hochkonzentration des 35%igen Wasserstoffperoxids auf 80 - 85 % fertiggestellt und nahm den Betrieb auf.
Die zweite Halle zur Produktion von 35%igem Wasserstoffperoxid konnte Ende Oktober 1941 in Betrieb gehen. Halle 3 war im Juni 1942 und Halle 4 im November 1942 fertiggestellt. Die gesamte Anlage war mit Inbetriebnahme von Halle 5 im Juni 1944 errichtet.
Eine detaillierte Aufstellung der einzelnen Betriebsphasen für jede der 5 Produktionshallen und der aus Sicherheitsgründen in einem eigenen Gebäude installierten Konzentrationsanlage zur Herstellung des 80/85%igen Endprodukts ist im BIOS Final Report 599 (HICKSON et al. 1945) enthalten.
Die Kosten für die Errichtung der Werksanlagen in Bad Lauterberg beliefen sich insgesamt auf 70 Mio. RM.
Der zwischen der reichseigenen LAG (Luftfahrtanlagen GmbH, Berlin/Schöneberg; später Hamburg) und der Otto Schickert & Co. KG am 26.10.1939 vereinbarte Pachtvertrag war entsprechend der Produktionsmöglichkeiten in den einzelnen Hallen ab 1.4.1941 sukzessive in Kraft getreten (BINDER et al. 1950). Die LAG wurde damit Eigentümerin von Grundstück und Anlagen, welche wiederum an die Otto Schickert & Co. KG als Betreiberin verpachtet wurden.
Die Produktion des Werkes Lauterberg wurde bis 1944 laufend auf ca. 1100 Monatstonnen gesteigert und betrug in 1944 8.829.240 kg Wasserstoffperoxid, in 1945 (bis 4.4.1945) 781.479 kg.
HICKSON et al. (1945) geben für die Anlage in Bad Lauterberg detaillierte Produktionsziffern an. Pro Halle betrug die theoretische monatliche Produktionskapazität demnach 250 t Wasserstoffperoxid, bezogen auf eine Konzentration von 100 %. Dieser Maximalausstoß wurde allerdings nie erreicht. Bezogen auf ein 100%iges Endprodukt wurden während der Kriegszeit folgende Mengen Wasserstoffperoxid erzeugt:

1941: 1401,0 t
1942: 3995,5 t
1943: 7398,6 t
1944: 7398,6 t
1944: 8760,8 t

Summe 26.952,4 t

Neben dem Werk in Bad Lauterberg mit einer geplanten Monatskapazität von 1200 (1250) t wurde ein weiteres Werk in Rhumspringe für 2100 Monatstonnen geplant. Die erste Produktionseinheit dieses neuen Werkes war zwar zu Kriegsende fast fertiggestellt, hat aber die Produktion nicht mehr aufgenommen.
Der Standort am nördlichen Ortsausgang von Bad Lauterberg wurde, wie bereits erwähnt, wesentlich bestimmt durch die 1934 in Betrieb genommene Odertalsperre. Die H2O2-Produktion und inbesondere dessen Aufkonzentration benötigte große Wassermengen, die hier auf kurzem Wege in die Fabrik geführt werden konnten.


Abb. 3: Die Odertalsperre im Bau (Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)

Die wesentlichen Einsatzpläne für Wasserstoffperoxid bestanden für H2O2-Turbinen in der neuen U-Boot-Generation und für den Antrieb neuartiger Torpedos. Die Entwicklung der Antriebe im U-Boot-Sektor konnte jedoch nicht mit der Entwicklung der Wasserstoffperoxid-Produktion mithalten. Zwar wurden noch vier U-Boote gebaut, die unter Wasser eine sehr hohe Geschwindigkeit ohne Gasblasenbildung erreichten (U-792, U-793, U-794 vom Typ XVII und ein erstes Versuchsboot V-80), doch wurde die Weiterentwicklung bzw. der militärische Einsatz dieser U-Boote durch die seit 1943 zunehmende Bombardierung von Kiel verhindert.
Das Wasserstoffperoxid wurde ab 1941 zunächst in Zwischenlager verbracht, im Harz u.a. in das Wifo-Treibstofflager Nordhausen.
Das Werk Lauterberg genoss immer die spezielle Aufmerksamkeit der Luftwaffe. So verfügte das Reichsluftfahrtministerium beispielsweise unter dem 8.4.1940, dass Firmen bestimmter Verbrauchsmittel und Geräte, die für die Kampfaufgaben der Luftwaffe besonders dringend benötigt wurden, bevorzugt zu unterstützen seien, in erster Linie bei der Zuweisung von Werkzeugmaschinen, Fertigungsmitteln, Materialkontingenten und Personal, für welches das Reichsluftfahrtministerium Sondermaßnahmen beim OKW beantragt hat. Unter den sechs in dieser Verfügung genannten Firmen war auch die Firma Otto Schickert, Lauterberg (BUNDESARCHIV KOBLENZ 1979).
 

Eingesetzte Arbeitskräfte

Insgesamt waren 1945 450 Chemiefacharbeiter und Vorarbeiter, 450 Arbeiter für die Instandhaltung sowie 250 Chemiker, Ingenieure, Aufseher und Verwaltungsangestellte im Schickert-Werk Bad Lauterberg beschäftigt (WOLDENBERG & WHITE 1945). Nach einer anderen britischen Quelle waren insgesamt 1008 Personen beschäftigt, darunter 86 Frauen (HICKSON et al. 1945). Allerdings wird in dieser detaillierten Aufstellung kein Wachpersonal erwähnt. HILLEGEIST (1993) listet insgesamt 1011 Beschäftigte auf. LÜDER (2008) nennt zeitweilig 789 ausländische Beschäftigte, davon 745 Zwangsarbeiter bzw. Zwangsarbeiterinnen einschließlich acht Kindern aus 15 Nationen. Gearbeitet wurde im 3-Schicht-Betrieb.


Abb. 4: Ausländerlager in Bad Lauterberg
(Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)


 

Zwangsarbeiterlager

Die Firma Schickert hatte ein eigenes Zwangsarbeiterlager, das sich nördlich des Bahnhofs Odertal befand; der CATALOGUE OF CAMPS AND PRISONS IN GERMANY AND GERMAN-OCCUPIED TERRITORIES (1950) gibt die Zahl der Zivilarbeiter mit 400 Personen an. Nach anderen Quellen waren in dem Lager zwischen 150 und 350 Personen untergebracht. Das Lager wurde als "Gemeinschaftslager Odertal" bezeichnet. Die Insassen, zu denen u. a. Belgier, Flamen und Italiener gehörten, mussten als Maurer und Zimmerleute arbeiten und waren in Gruppen zu sechs Personen in kleinen Wohnbaracken untergebracht. Für den Bau der Werksanlagen wurden 300 Italiener nach Bad Lauterberg beordert, nachdem das Volkswagenwerk fertiggestellt war. In der Siedlung Odertal wurden für die Belegschaft 61 Werkswohnungen gebaut. Außerdem wurde teilweise die Bad Lauterberger Siedlung Aue bezuschusst.
RÖGER (1983) stellte die Behauptung auf, aus Geheimhaltungsgründen seien keine Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge direkt in der Produktion beschäftigt gewesen – das ist allerdings nicht zutreffend, siehe auch nachfolgenden Zeitzeugenbericht von Alex Van Heugten aus LÜDER (2008).



Abb. 5: Lagerübersichten des Schickert-Werks Bad Lauterberg
(Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)

Die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter wurden in der älteren Literatur zum Schickert-Werk Bad Lauterberg stets beschönigend dargestellt, z.B. von HILLEGEIST (1993), der sich nur auf die befangenen Aussagen der Werksleitung stützte. Ein realistischeres Bild ergibt sich aus den Untersuchungen von LÜDER (2008).

Über die Arbeitsbedingungen der russischen und ukrainischen Zwangsarbeiter schreibt der niederländische Deportierte Alex Van Heugten (zitiert nach LÜDER 2008): „Weiter wurde berichtet, dass die fertiggestellten Halbfabrikate (eine Art milchfarbene Flüssigkeit) per Eisenbahn abtransportiert wurden zu einem abgesonderten Teil des Werkes. In diesem geschlossenen Teil wurden nur Ostarbeiter eingesetzt, die Umstände dort müssen fürchterlich gewesen sein. Befragte Limburger berichten weiter, dass von diesen Ostarbeitern keiner den alliierten Einmarsch erlebt hat

LÜDER (2008) berichtet auch nachfolgende Begebenheit: „Unterschlagungen von Lebensmitteln hat es naturgemäß auch gegeben. Ein Erlebnisbericht aus dem Jahr 1942 vom Obermeister der Bäckerinnung im Landkreis Osterode, Bäckermeister Eduard Herbst aus Bad Lauterberg, ist noch existent. In diesem Bericht ist von einer Lebensmittelunterschlagung großen Stils bei der Fa. Otto Schickert & Co. KG die Rede. Diese Menge wurde der Gemeinschaftsverpflegung entnommen und diente der gesonderten Verpflegung einiger Schickert-Betriebsangehörigen. Bäckermeister Herbst meldete als zuständiger Obermeister der Bäckerinnung diesen Verstoß dem Getreidewirtschaftsverband und der Deutschen Arbeitsfront. Anstoß dazu war die Beschwerde von deutschen Betriebsangehörigen, die an der Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen mussten, über ungenießbares Brot aus der Lagerbäckerei. Im Mai 1942 wurde Herbst aufgrund dieser Meldung wegen Unruhestiftung in Bevölkerung und Gefolgschaft der Schickert-Werke sowie der Verleumdung eines hohen und verdienten Parteigenossen aus der NSDAP ausgeschlossen. Diese Unterschlagung hatte aber doch noch ein gerichtliches Nachspiel. Im August 1942 klagte der Getreidewirtschaftsverband gegen die Firma Otto Schickert & Co. KG. Bei dem gerichtlich angeordneten Lokaltermin in der Bäckerei des Gemeinschaftslagers der Fa. Otto Schickert kam es zu nachfolgender Szene:

Der Backofen war angeheizt. Von der Firma Otto Schickert & Co. KG. war kein Vertreter erschienen. Die Herren der Geschäftsführung, der Partei und der Lagerführer Göricke weilten auf einer Trauerfeier, die mit Fahnen und Standarten in Bad Lauterberg stattfand. Vor Ort waren vertreten: drei Herren vom Gericht, der Landwerkskammerpräsident Schmidt aus Hildesheim, der Vertreter des Gauleiters mit zwei Parteigenossen und Bäckermeister Herbst. Auf die Frage des Handwerkskammerpräsidenten an den Bäcker, was er gebacken habe, da der Backofen angeheizt sei, erklärte dieser, dass er verseuchte und verlauste Kleidungsstücke des Russenlagers im Backofen verbrenne. Die vom Gericht eingesetzte Kommission musste die Feststellung machen, dass in einem „nationalsozialistischen Musterbetrieb“ zwischen einer Bäckerei und einem Krematorium für Ungeziefer kein Unterschied gemacht wurde. Die Besichtigung der Lagerräume für Lebensmittel ergab auch ein vernichtendes Urteil. Die Kommission gab zu Protokoll, dass die Räume sich zu allem Möglichen eignen, nur nicht zur Aufbewahrung von Lebensmitteln.

Ein Strafverfahren wurde aufgrund der hohen Stellung und der Parteizugehörigkeit von Otto Schickert, Blutordensträger der NSDAP und Wehrwirtschaftsführer, nicht eingeleitet. Insgesamt scheinen von den Verpflegungsmängeln vor allem die Ostarbeiter und Polen betroffen gewesen zu sein, die Behandlung der westeuropäischen Arbeitskräfte war offensichtlich besser


Abb. 6: Polizeimeldung vom 5.1.1943
(Archivgemeinschaft Bad Lauterberg)


 

Schutz des Werks

Die gesamte Anlage war von einem hohen Zaun umgeben. An einem Pförtnerhaus wurden die Besucher kontrolliert. Das Wachpersonal des Werks trug Zivilkleidung. Der Werksschutz besaß zwischen dem Verwaltungstrakt und den eigentlichen Produktionsanlagen ein eigenes Gebäude. Zum Schutz des Werks verließ man sich weitgehend auf die Geheimhaltung; großangelegte militärische Schutzmaßnahmen wurden praktisch nicht ergriffen.
Das Werk wäre ein hervorragendes Angriffsziel gewesen, weil hier ein Großteil der deutschen T-Stoff-Produktion konzentriert war. Da für die Herstellung von 35%igem Wasserstoffperoxid im wesentlichen Glas- und Keramikwerkstoffe benutzt wurden, wäre der Einsatz von hochexplosiven Bomben sehr effektiv gewesen (THE UNITED STATES STRATEGIC BOMBING SURVEY 1947).
Das gesamte Tal ober- und unterhalb der Werksanlagen war zum Schutz gegen Luftangriffe mit druckluftbetriebenen Nebelzerstäubern bestückt, die in einer Entfernung von ca. 70 - 90 m zu den Anlagen installiert waren. Nebelsäure wurde erzeugt aus einer Mischung von Chlorsulfonsäure und flüssigem Schwefeltrioxid im Verhältnis 60 : 40 bzw. 50 : 50. Der dadurch entstehende dichte Nebel konnte auch im Winter eingesetzt werden, da der Gefrierpunkt dieser Mischung unterhalb der in Europa auftretenden tiefsten Wintertemperaturen liegt (ULLMANN 1964). Da man aber wahrscheinlich eine Beeinträchtigung der Wasserstoffstoffperoxid-Produktion durch den Einsatz von Nebelsäure befürchtete, wurden auch Versuche mit anderen Nebelstoffen durchgeführt und ihre Wirkung auf die Stablität des produzierten Wasserstoffperoxids untersucht.
Zum Schutz der Belegschaft vor Luftangriffen war am Fuß des Bischofshalses ein Luftschutzstollen mit zwei Eingängen angelegt. Zusätzlich stand eine Anzahl von "Unterständen" entlang der Wege für den Fall eines Luftangriffs zur Verfügung. Ein heute zugemauerter Stollen an der Oderbrücke (Giebische Ecke) ist auf Plänen der Verwaltungsgesellschaft für Industriegrundstücke m. b. H. - Werk Bad Lauterberg als "Luftschutzgraben" verzeichnet.
Die Zivilbevölkerung von Bad Lauterberg hatte keine Kenntnis, was in dem Werk hergestellt wurde. Offiziell produzierte man dort chemische Erzeugnisse und Vorprodukte für die Kosmetik- und Seifenindustrie im Rahmen des Vierjahresplans. Von den im Werk Beschäftigten wurde das hergestellte Wasserstoffperoxid gegenüber Außenstehenden als T-Stoff bzw. "unser Produkt" bezeichnet, das "von Henkel für die Seifenherstellung" gebraucht wurde.
 

Stromversorgung

Zwischen Lehrte bei Hannover und Würzburg verlief in Nord-Süd-Richtung eine zentrale Hochspannungsleitung; sie wurde von folgenden Elektrizitätswerken gespeist: Edertal und Borken bei Kassel, Harpke südöstlich Helmstedt und Bitterfeld bei Halle. Nordwestlich von Göttingen befand sich in Hardegsen eine Haupt-Umspannanlage für diese Leitung. Von dort liefen drei Überland-Hochspannungsleitungen mit je 60 kV in das Südharzvorland. Eine dieser Leitungen speiste die Wasserstoffperoxidanlage in Rhumspringe, die zweite Direktleitung führte zum Schickert-Werk Bad Lauterberg. Die dritte Leitung führte bis nach Pöhlde und gabelte sich dort, um im Bedarfsfall sowohl die Anlage in Rhumspringe als auch die Lauterberger Anlage mit Strom versorgen zu können. Der im Bad Lauterberger Schickert-Werk ankommende Strom wurde in einer unter freiem Himmel befindlichen Umspannanlage neben dem Schalthaus auf 10 kV transformiert. Zum Schutz gegen Bombenangriffe war das Schalthaus mit einer massiven Mauer umgeben. Jedes Gebäude hatte seine eigene Umspannstation, wo der 10 kV-Wechselstrom durch Transformatoren und Quecksilbergleichrichter in Wechselstrom zum Betrieb der Geräte und Gleichstrom für die Elektrolyse umgewandelt wurde. Alle Verbindungsstellen der Leitungen waren verzinnt. Kupfer durfte aufgrund seiner katalytischen Wirkung unter keinen Umständen eingesetzt werden.
Ein mit Wasserkraft betriebenes Elektrizitätswerk befand sich im Odertal am Fuß des Staudamms der Talsperre (heute betrieben durch die Harzwasserwerke GmbH). Während der Zeit der Kriegsproduktion lag die Energieausbeute in diesem Werk bei 6.000 kW, da bedingt durch die geringe im Einzugsgebiet zu Verfügung stehende Wassermenge täglich nur über einen Zeitraum von zwei Stunden Strom erzeugt werden konnte. Der Strom konnte auch in die Leitung Bad Lauterberg - Hardegsen eingespeist werden.
 

Kühlwasser

Aus der auf den 17.1.1944 datierten Stellungnahme des Flusswasseruntersuchungsamts Hildesheim zum wasserrechtlichen Verleihungsantrag der Firma Otto Schickert u. Co. für das Werk in Bad Lauterberg geht hervor, dass das benötigte Kühlwasser aus dem flachen Ausgleichsbecken unterhalb des Staudamms in einer Menge von 995 l/s entnommen wurde. Es hatte aufgrund der geringen Gesamthärte von 2,2 °dH aggressive Eigenschaften und musste daher vorbehandelt werden. Eine vor 1944 praktizierte Behandlung des Rohwassers mit Kalkmilch hatte sich nicht bewährt. In einem vom Flusswasseruntersuchungsamt Hildesheim zitierten Bericht der Reichsanstalt für Wasser- und Luftgüte vom 8.5.1943 wurde daher eine Behandlung des Rohwassers mit fein gepulvertem, gebranntem Dolomit vorgeschlagen; man hatte dieses Verfahren bereits erfolgreich erprobt und wollte es bei weiterer Bewährung beibehalten.
 

Weitere unterirdische Bauwerke

Neben den bereits oben beschriebenen Luftschutzstollen am Bischofshals sowie an der Giebischen Ecke gibt es im Bereich des Werksgeländes zwei weitere im Festgestein angelegte Stollenanlagen, die heute als Fledermaus-Winterquartiere von Bedeutung sind. Einer dieser Stollen ist in seiner Funktion klar zuzuordnen; er diente der Lagerung von Ammoniak und Schwefelsäure und befindet sich unmittelbar südwestlich der Entsäuerungsanlage/Kläranlage. Dieser Stollen war an seinem Ende mit Tanks bestückt, welche über Rohrleitungen mit den Produktionsstätten verbunden waren. Ein weiterer, in seiner Funktion unbekannter Stollen befindet sich an der südlichen Spitze des Werksgeländes im Hang des Bischofshalses. Die genannten Stollen stehen weitestgehend im festen Gebirge und weisen – außer im Mundlochbereich – praktisch keinen künstlichen Ausbau auf.
Weiterhin gab es im Bereich des Werksgeländes ein System unterirdischer Kanäle, die im Lockergestein angelegt und künstlich ausgebaut wurden. Dieses Kanalsystem diente der Aufnahme von Ver- und Entsorgungsleitungen. Der größte dieser Kanäle verband die fünf Produktionshallen und verlief an deren Westseite knapp unter Flur. Der Gang erstreckte sich von der Südwestecke der Halle 5, wo er durch eine Rampe zu Tage führte, bis zum Badehaus. Über mehrere Verbindungskanäle war dieser Hauptkanal, in dem die wesentlichen Versorgungsleitungen verliefen, mit anderen Gebäudekomplexen des Werkes verbunden. Ein weiterer begehbarer Revisionskanal verband die Abfüllstation für das hochkonzentrierte Endprodukt mit dem Tanklagergebäude. Als weiteres unterirdisches Bauwerk ist der Drainagekanal zu erwähnen, der das vom Kummel-Osthang dem Werksgelände zusitzende Hangzuzugswasser sammelte und abführte.
 

Kriegsende und Demontage

Das Kriegstagebuch vom 1. Januar bis 31. März 1944 (RÜSTUNGSKOMMANDO HANNOVER DES REICHSMINISTERS FÜR RÜSTUNG UND KRIEGSPRODUKTION 1944) stellt unter "Sonstige Betriebe" fest: "Die Erzeugung der Firma Otto Schickert stieg von 680 auf 770 to."
Im Kriegstagebuch vom 1. April 1944 bis 30. Juni 1944 wird vermerkt: "Die Firma Schickert hatte im ganzen Quartal Ausfälle durch Flieger-Alarme, Betriebsstörungen und Stromzufuhr-Unterbrechungen, erreichte jedoch insgesamt das Produktions-Soll."
Im Januar 1945 wurden Vorschläge für eine Verlagerung (Deckname: Andalusit) der Anlagen in Bad Lauterberg angefordert (BUNDESARCHIV KOBLENZ 1979). Weitere Details über diese geplante Verlagerung sind nicht bekannt.
 

Kampfstoff-Verlagerungspläne

Nach Untersuchungen des Mainzer Militärhistorikers Prof. Volkmann bestand im Januar 1945 der Plan, in Bad Lauterberg Produktionsstätten für chemische Kampfstoffe zu errichten. Zu diesem Thema gab es seit Ende 1979 eine rege Veröffentlichungstätigkeit in der überregionalen und lokalen Presse.
Auch nach Erkenntnissen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg/Breisgau war für Bad Lauterberg eine bedeutende Anlage zur Herstellung von chemischen Kampfstoffen vorgesehen. In den Originalunterlagen heißt es: "Um den möglichen Einsatz der dem Feind unbekannten neuentwickelten Nervenkampfstoffe sicherzustellen, die vorwiegend im Werk Dyhernfurth/Oder hergestellt wurden und vom sowjetischen Vormarsch bedroht waren, wurde die Verlagerung von Produktionsanlagen nach Bad Lauterberg und Rhumspringe im Harz vorbereitet." (Schr. Bezirksregierung Braunschweig v. 20.11.1979).
Als im Januar 1945 die sowjetischen Streitkräfte nach Ostpreußen und Schlesien vorrückten, waren auch die Produktionsanlagen für chemische Kampfstoffe in Dyhernfurth, etwa 20 km nordwestlich von Breslau am rechten Oderufer, in unmittelbarer Reichweite der sowjetischen Truppen. In den von der I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft betriebenen Werken in Dyhernfurth erfolgte die Massenherstellung von Tabun und von geringeren Mengen Sarin. Um den sowjetischen Truppen nicht eine produktionsbereite und modern ausgerüstete Anlage zur Herstellung von Kampfstoffen in die Hände fallen zu lassen, wurden von deutscher Seite alle Anstrengungen unternommen, die Produktionsanlagen in Dyhernfurth noch nach der Besetzung durch die sowjetischen Truppen zu zerstören. Am 5.2.1945 wurden durch eine Stoßtruppe aus Infanteristen und Pionieren in zwei unterirdischen Tanks lagernde Tabunvorräte über ein Rohrleitungssystem in die Oder gepumpt und das Werk dem Erdboden gleichgemacht. Für den 6.2.1945 notierte der Kriegstagebuchführer für das Oberkommando der Wehrmacht, Major Percy Ernst Schramm: "Durch ein Sonderunternehmen wurde eine Spezialfabrik, wie beabsichtigt, völlig zerstört." (GROEHLER 1978).
Allerdings bestehen Unklarheiten, inwieweit das Werk Dyhernfurth tatsächlich zerstört wurde. Möglicherweise wurde das Oberkommando der Wehrmacht auch falsch informiert. AHLFEN (1962) berichtet, dass die Aktion vom 5.2.1945 nur das Ziel hatte, die noch im Werk lagernden Tabunbestände zu vernichten. Dafür spräche möglicherweise auch die Tatsache, dass die I. G.-Werke Dyhernfurth in der späteren Volksrepublik Polen zu den Oderwerken der organischen Industrie (Rokita) umfunktioniert wurden (GROEHLER 1978).
Es ist unklar, inwieweit in Bad Lauterberg schon konkrete Vorbeitungen für die Giftgasproduktion bzw. -lagerung getroffen worden sind und ob noch Spitzenkampfstoffe in Bad Lauterberg angekommen sind. Die Quellen enthalten hierzu keine Angaben. Eine 1980 durchgeführte Inspektion des Schickert-Geländes durch den Niedersächsischen Kampfmittelbeseitigungsdienst erbrachte keinen Hinweis auf chemische Kampfstoffe.
Immer wieder auftauchende Gerüchte über eine Versuchsanlage zur Herstellung von Schwerem Wasser (Deuteriumoxid, D2O) in Bad Lauterberg haben keine Grundlage und dürften auf der Unkenntnis des Produktionsprozesses und des hergestellten Endprodukts beruhen. Auch die befragten Zeitzeugen verneinten einhellig die Produktion von Schwerem Wasser im Werk Lauterberg.
 

Produktionseinstellung

Wegen Kohlemangel musste die Produktion in den Hallen 3 und 5 am 30.1. und in Halle 2 am 10.3.1945 eingestellt werden. Bereits im Februar 1945 war der gesamte Vorrat an 80%igem Wasserstoffperoxid aus Lauterberg abtransportiert worden (PISCHKE in NIEDERSÄCHSISCHES UMWELTMINISTERIUM 1989:19). Das Produktionsende in den Hallen 1 und 4 trat am 4.4.1945 ein (BINDER et al. 1950, HICKSON et al. 1945). Im April 1945 drangen die US-Truppen von Westen in den Harzraum vor. Nach heftigen Kämpfen vom 12. - 14. April nahm die Infanteriedivision 104 des VII. U.S.-Korps die Stadt Bad Lauterberg ein. Nur noch die oberhalb des Schickert-Werksgeländes liegende Siedlung Odertal befand sich in deutscher Hand. Nach Aussagen von Zeitzeugen aus dem Bad Lauterberger Ortsteil Odertal wurden am 14.4.1945 während der letzten Kampfhandlungen im Ort fünf russische Zwangsarbeiter von einer Nachhut deutscher Fallschirmjägerbeim Plündern der Werkssiedlung der Harzwasserwerke überrascht und ohne kriegsgerichtliche Verhandlung sofort vor Ort erschossen (LÜDER 2008).

Am Nachmittag des 15. April kamen amerikanische Panzer und Infanteristen mit gefangenen deutschen Soldaten von St. Andreasberg das Sperrluttertal herunter und konnten ohne Widerstand die Siedlung Odertal besetzen. Die befreiten Zwangsarbeiter (ca. 2000 Russen und 250 Italiener) aus den Arbeitslagern des Schickert-Werks und der zum Polte-Konzern gehörigen Metallwerke Odertal GmbH, wo Infanteriemunition hergestellt wurde (KNOLLE 2003), plünderten sofort nach Eintreffen der Amerikaner die Siedlung Odertal und erschlugen dabei einige Bewohner (BORNEMANN 1989a, b).
Das Schickert-Werk in Bad Lauterberg wurde von den Alliierten bis Kriegsende nicht entdeckt bzw. in seiner Bedeutung nicht richtig eingeschätzt. Es gibt die Äußerung eines alliierten Offiziers, der nach Kriegsende meinte, die Anlage wäre dem Erdboden gleichgemacht worden, hätte man die Relevanz des Werkes gekannt (HILLEGEIST 1993). Allerdings ist ein Bombenabwurf Ende 1944 im Bereich des Werksgeländes belegt. Zeitzeugen berichteten von einem "... Abwurf der Bomben, die den Schickert-Werken galten, aber ins Oderbett fielen ..." (BAD LAUTERBERGER TAGEBLATT 1955).
Aus einem britischen CIOS-Report (WOLDENBERG & WHITE 1945) ist bekannt, dass Werksdirektor Otto Schickert am 9.4.1945 auf persönliche Express-Order von Reichsminister Speer die Anweisung bekommen hat, dass die Anlagen der Firma Otto Schickert und Co. KG in Bad Lauterberg und Rhumspringe unter keinen Umständen gesprengt werden sollen – nicht einmal für den Fall, dass der Feind diese Plätze besetzt. Die Anlagen sollten lediglich lahmgelegt werden, jede Gefährdung der Anlagen durch militärische Verteidigung solle tunlichst komplett vermieden werden.
Nach Schickerts Meinung war diese Order ausgegeben worden, um die Anlagen aufgrund ihrer Bedeutung für die Friedenswirtschaft von Deutschland unzerstört zu erhalten. Dieses Argument galt aber mit gleichem Recht für jede Anlage, die von den Deutschen gesprengt worden war, mit Ausnahme reiner Munitionsfabriken. Es mussten also andere Gründe eine Rolle spielen. Schickert konnte oder wollte keine bessere Erklärung geben. Die deutschen Hoffnungen auf eine Rückeroberung mussten zu diesem Zeitpunkt relativ gering sein, aber die auf langfristige Sicht gesehene Bedeutung, die Anlagen zu erhalten, wird deutlich erkennbar (WOLDENBERG & WHITE 1945).
Gegenüber den Engländern setze sich Otto Schickert mit Nachdruck dafür ein, die Produktion wieder aufzunehmen. Seiner Meinung nach konnte das Wasserstoffperoxid für zivile Zwecke als Bleichmittel und als Grundstoff für die pharmazeutische Industrie sowie in anderen Industriezweigen eingesetzt werden. Außerdem sah er Absatzchancen in der Produktion von porösen Baustoffen mit Hilfe von Wasserstoffperoxid wie Porenbeton und Porengips im Zuge des erwarteten Wiederaufbaus. Selbst unter der Annahme, dass alle übrigen Produktionsstätten für Wasserstoffperoxid des Dritten Reichs zerstört gewesen wären, hätte Schickert bei der Produktionskapazität der Bad Lauterberger Anlage nur ein Drittel seines erzeugten Wasserstoffperoxides verkaufen können. Unbeirrt davon spekulierte er auf ein expandierendes Exportgeschäft (WOLDENBERG & WHITE 1945).
Nach der Ablösung der amerikanischen Besatzungstruppen durch die Engländer wurde die Otto Schickert & Co. KG aufgefordert, zunächst alle fünf Hallen in betriebsbereitem Zustand zu belassen. Insbesondere sollten Arbeiter und Angestellte weiter beschäftigt werden. Nach Beendigung des Japankrieges am 2.9.1945 wurden nur noch zwei Hallen betriebsbereit gehalten. Aufgrund besonderer Genehmigungen der Wirtschaftsabteilung der britischen Militärregierung wurde zur Beschäftigung der Belegschaft und zur Verringerung der Bereitschaftskosten vorübergehend die Produktion von Aluminiumgeräten und Küchenmöbeln vorgenommen und auch allgemeine Reparaturarbeiten erledigt. Am 6.7.1946 wurden alle Produktionsgenehmigungen zurückgezogen. Der größte Teil der Belegschaft musste entlassen werden; im Werk verblieben etwa 75 Arbeiter und Angestellte.
1946 erhielt die Otto Schickert & Co. KG den Auftrag, 1.544.033 kg Wasserstoffperoxid, die aus acht verschiedenen Lagern und Wehrmachtsdepots nach Bad Lauterberg transportiert wurden, umzuarbeiten. Diese Arbeiten umfassten die Reinigung und Konzentration bzw. Dekonzentration des Produktes. Ein Teil des umgearbeiteten Wasserstoffperoxids war nach England zu versenden.
Im Frühjahr 1947 wurde die Deutsche Bergwerks- und Hüttenbau-GmbH, Wolfenbüttel (DBHG) mit der vollständigen Demontage des Werkes beauftragt. Einen großen Teil des ehemaligen Schickert-Personals übernahm die DBHG. Ab März 1947 wurden die Anlagen demontiert und nach England gebracht, um das Werk wieder zu reaktivieren. Insgesamt umfasste die Demontageliste 25.000 Positionen.
Besonderes Interesse an der Lauterberger Anlage bestand seitens der Fa. Laporte Industries Limited - General Chemical Division in Widnes, Cheshire UK. Der Erfinder Walter befand sich inzwischen auch in England, wo nach sechs Jahren Bauzeit nochmals ein mit Wasserstoffperoxid betriebenes Walter-U-Boot fertiggestellt wurde.
In der dem Niedersächsischen Ministerpräsidenten am 16.10.1947 zugestellten Demontageliste, die für Niedersachsen den Abbau von 116 Betrieben vorsah, hatte das Schickert-Werk Bad Lauterberg (hier in der Liste der gemäß Zweizonen-Industrieplan überzähligen Industrieanlagen) die B/S-Nr. 399, Cind.-Nr. 1411 - Reichsbetriebsnummer 0/0477/0031 (nach TREUE & SCHRADER 1967 und Altakten des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr).
Nach anderen Quellen hingegen unterlag das Schickert-Werk Bad Lauterberg als eine von 78 Anlagen in der Gruppe A als ehemalige Rüstungsanlage der Kategorie I (Direktive 39), die als Kriegsbetriebe voll demontiert wurden (DER NIEDERSÄCHSISCHE MINISTER FÜR WIRTSCHAFT UND VERKEHR 1950).
Nach der Demontage der Maschinen und Apparate wurden lediglich einige Umlaufchemikalien zu Düngesalz verarbeitet und die verbliebenen Rohstoffe (Chemikalien) und Fertigerzeugnisse nach und nach veräußert. Die Otto Schickert & Co. KG selbst beschränkte sich in den folgenden Jahren auf die reine Werksbetreuung.
 

Zustand und Eigentumsverhältnisse des Geländes

In den Jahren zwischen 1979 und 1984 wurden die Hallen 1, 2 und 3 sowie die Verfüllstationen und zahlreiche kleinere Gebäude abgerissen.
Mit Ausnahme des ehemaligen Verwaltungsbereiches veräußerte die Industrieverwaltungsgesellschaft AG im Jahre 1990 das gesamte Grundstück mit den ehemaligen Produktionsgebäuden des Schickert-Werks zum symbolischen Kaufpreis von einer Deutschen Mark an die Stadt Bad Lauterberg. Der Übergang des verkauften Grundbesitzes erfolgte am 1.7.1990.
Mit Strukturhilfemitteln wurde zwischen 1990 und 1992 die noch verbliebene Gebäudesubstanz dem Erdboden gleichgemacht.
Bedauerlicherweise wird bis heute vor Ort mit keiner Zeile über die frühere Rolle dieses Standorts informiert.
 

Geologie und Altlasten

Die Produktionsanlage wurde auf dem über 7 m mächtigen Terrassenkörper der Oder, der aus Kiesen und Sanden besteht, errichtet. Der Baugrund war vor der Nutzung teilweise sumpfig und musste aufgefüllt werden. Die Terrassenschotter liegen dem Grundgebirge des Harzes auf, das hier aus Tanner Grauwacke besteht.
Das Gelände entwässert oberflächlich und über den Grundwasserspiegel in die Oder; dieser Fluss durchfließt nach Verlassen des Paläozoikums die Zechsteingürtel des Südharzrandes und gibt in diesen Schichten sein Wasser teilweise in den Untergrund ab. Die versunkenen Wässer treten in der Rhumequelle wieder zutage.
Bodenkontaminationen durch Berliner Blau sind nachgewiesen; das Grundwasser des Geländes weist in einer Messstelle erhöhte Gehalte an AOX und Kohlenwasserstoffen auf.
 

Literatur

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Frank Jacobs & Dr. Friedhart Knolle, Spurensuche Harzregion e.V.


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