„Im Bebertal“

von

Hermann Löns


 

In der Südwestecke der Harzkarte ist ein weißer Fleck zwischen den Orten Scharzfeld, Barbis, Bartolfelde, Bockelnhagen, Silkerode, Zwinge, Hilkerode und Rhumspringe. Kein rotes Pünktchen deutet hier ein Wohnhaus an, kein schwarzer Strich eine Landstraße. Nur ganz am Rande der Einöde liegt unter dem Rothenberge ein einsames Gehöft, das Rothenberger Haus. Das ist das Bebertal, eine hügelige Landschaft mit üppigen, blumenbunten Wiesen in den Taleinschnitten, mit grünen Feldern an den Hängen, mit stillen Wäldern auf den Kuppen, ein weites Stück Land, fett und fruchtbar, und doch so einsam und menschenleer. Nur zur Bestellzeit oder in der Ernte sieht man hier Leute. Sonst treibt nur der Schäfer seine Herde über die grasigen Tristen und heidwüchsigen Hänge, die vom Quendel duften, oder hochgeschürzte Frauen schleppen hohe Reisigwellen aus den Feldköpfen nach Barbis. Aber oft kann man tagelang hier herumsteigen, ohne eine lebende Seele zu sehen, ohne eine Menschenstimme zu hören. Nur die Rehe sieht man zwischen Schlüsselblumen und Knabenkraut äsen, nur den Fuchs sieht man über die roten Koppelwege schnüren, und Pfingstvogel, Ringeltäuber und Gabelweihe bringen leben in die Stille.

Es war nicht immer so einsam und still hier. Dort unten, wo die kleine lustige Beber durch die blumigen Wiesen rieselt, sieht man im grünen Grase einen flachen Hügel, von einem kreisrunden Wall umspannt. Die alte Kirche nennen die Barbiser Bauern den Platz und einst stand dort das Gotteshaus des Dorfes Königshagen. Eine Wassermühle klapperte weiter unten, von dem Mühlengraben getrieben, schwarzweiße Fachwerkhäuser, von rosig und weiß blühenden Obstbäumen beschützt, erhoben sich um die Kirche, am Tage erscholl hier der rauhe Ruf des Pflügers, und abends übertönte der Gesang der Mädchen den Ruf der Ohreule und des Waldkauz. Da kam über die alte Hoheitsstraße, die über den Rothenberg führt und Sachsen und Hannover scheidet, ein riesiges und unheimliches Wesen. Auf dem verwetterten Barett schwankten zerfaserte Straußenfedern, um die magere Brust hing ein zerfezter Lederkoller, um die klapperdürren Lenden schlotterten plundrige Schlitzhosen und an Hacken der ausgetretenen Krempstiefel klirrten mächtige verrostete Radsporen. Verwildert und verwüstet, gelb und tiefgefurcht war das Gesicht des Gespenstes, schwarzumschattet die modergrünen Augen. In der häßlichen rechten Hand mit den Krallennägeln hielt es einen fast mannslangen rotfleckigen Zweihänder, in der dreifingrigen linken eine qualmende Fackel. Zwei scheußliche, räudige, verhungerte Köter schlichen ihm nach. Mit gierigen Augen sah das Gespenst hinab auf Königshagen. Ein höhnisches Lächeln zog seine blauen, dünnen Lippen zusammen. Wedelnd sahen die Köter zu ihm empor. Es winkte mit dem Schwert, da verstummten im Tale die Lieder der Mädchen und das Lachen der Kinder. Es schwang die Brandfackel, da fielen rote Funken auf die Dächer, schwarzer Rauch und gelbe Glut quoll empor. Gekreisch und Geschrei, Hundegebell und Viehgebrüll erklang, die Obstbäume sanken um, die Saaten verschwanden, rotes Blut spritzte auf die gelben Blumen in den Grasgärten. Das war der Krieg.

Im dreißigjährigen Kriege ist das Dorf Königshagen untergegangen. Die Bauern, die das Schwert und die Pest leben ließ, flohen nach Barbis und bauten sich dort an. Kein Stein blieb von dem Dorfe stehen. Wo die Kirche stand, äst jetzt das Reh, wo die Mühle klapperte, spielen die Hasen, an der Salzquelle, aus der sich einst von nah und fern die Kranken Heilung holten, picken die wilden Tauben herum. Nur der Ring im Rasen, die beiden Mühlgraben, reden noch von dem begrabenen Dorf, und die uralten Flurnamen, wie Ziegelgraben, Heiloch, Salzberg, Schreibersgraben, Hirtebusch, Kirchberg, Köterloch, Warberg, Romk und Nonnental.

In dieser Einöde, voll von Blumen, Vogelliedern und halbvergessenen Erinnerungen, leer von Menschen und lautem Leben, habe ich gejagt zwei Wochen lang. An sonnigen Nachmittagen, wo der Raps wie reines Gold leuchtet und die Wege wie frischgehämmertes Kupfer, an gewitterschwülen Abenden, wenn blaugraue Wolken den Himmel bedeckten und unter ihnen ein blutroter Sonnenuntergang die waldigen Kuppen mit Rosenschimmer übergoß, an Sturmtagen, wo die Wege grundlos waren von den Regenböen und der Sturm die alten Buchen mit der Faust ins Genick stieß, daß sie sich knirschend bücken mußten. Spät abends ging ich dort die Wege, wenn die Unken im Beberteich läuteten, und vor Tau und Tag war ich dort, wenn die Sonne über den Rothenberg stieg und die Füchsin mit dem Junghasen im Fang zum Bau schnürte. Gejagt habe ich da auf meine Art. Stundenlang habe ich hinter der von den Schafen verbissenen Krüppelfichte zwischen blauem Günzel und rotem Knabenkraut gelegen, meine Pfeife geraucht und dem Bock zugesehen, der unter mir am Graben mit seinem Schmalreh sich am saftigen Bergklee äste. Oder ich saß an der Lichtung im hohen Ort und sah den goldgelben, schwarzschwingigen Pfingstvögeln zu, die sich kreischend und flötend in den tiefen Aesten jagten und mir so nahe kamen, daß ich ihre rubinroten Augen sehen konnte. Dann wieder kauerte ich steif und stumm lange Zeit auf dem Stuken einer ungeheuren Buche im kühlen Stangenort, wo die Nachtviole ihre hellvioletten Kreuzblumen erhebt, hörte dem Tauber zu, der über mir, im Eichenüberhälter ruckste, und sah dem Dachs zu, der unter mir im feuchten Erdfall nach Untermast stach. Ein anderes Mal lehnte ich am Stamm eines blütenbedeckten Apfelbaumes über dem Köterloch, sah in den Himmel, an dem weiße Schäfchen zogen, und hörte den Heidlerchen zu, die mir Schlaflieder sangen, und der Grasmücke, die in dem blühenden Weißdorn schwatzte. Und dann drehte ich mich auf die Seite, atmete den Duft der goldgelben Zypressenwolfsmilch ein und sah den Großwieseln zu, die ihren Jungen den Mäusefang beibrachten. Im Warberg zwischen den tiefen, feuchten Erdfällen, abseits vom Wege, steht ein großes, graues Steinkreuz, schon tief eingesunken im Laufe der Jahrhunderte. Was es bedeutet, weiß kein Mensch zu sagen. Da habe ich manches liebe Mal gesessen und so vor mich hingedämmert. Vor mir mümmelten die Hasen am Grase des Wegerandes, hinter dem Erdfalle plätzten und fegten die beiden Böcke, die in der Fichtendickung ihren Stand haben, und über ihnen ätzte der Mäusebussard am Horst in der hochschäftigen Buche seine nimmersatte Brut.

Wenn ich den Schäfer traf, meinen alten Bekannten vom Sommer neunzehnhundertzwei, das war dann in den Tagen das einzige Mal, daß ich den Mund aufmachte. Dann wurde bei einer Zigarre und einem Schluck guten Nordhäuser ein halbes Stündchen geschnackt und dann trieb er die Trifft hinab und ich stieg den Steig hinauf nach der Köthe, die zwischen den schwarzen Fichten und den grünen Buchen im Warberg steht in der ich die kurzen Nächte auf dem Strohsack verbrachte und in der ich mir auf dem eisernen Kochofen meine einfachen Mahlzeiten bereite. Nach dem Essen sitze ich dann wohl auf der Knüppelbank und lese in dem großen Buch mit den hellgrünen Blättern und dem silbergrauen Einband, das aufgeschlagen vor mir liegt. Ein Grünspecht hämmert an einem faulen Stock herum, der Zaunkönig schlüpft durch die Bracken, hin und her fliegt der Markwart, seinen Jungen Maikäfer zutragend, und der starke Bock mit dem kurzen, dicken Gabelgehörn bearbeitet einen Traubenholderstamm, daß es rauscht und rappelt. Bis er aufwirft, zornig den Boden mit den Vorderläufen stampft und laut schreckend eine Flucht nach der anderen macht dahin, wo ein zweiter roter Fleck das schneeweiß besternte dichte Grün des Waldmeisters unterbricht. Da fasse ich leise nach der Waffe, mache mit den Lippen den Mausepfiff und reiße Funken in das spitze, rote weißgesäumte Gesicht daß zwischen den Tollkrautstauden hervorsieht und während der Bock polternd in den Erdfall hineinflüchtet schärfe ich dem alten Fuchs die Lunte ab und hänge sie zu den beiden andern, die über meinem Strohsack baumeln neben dem weitausgelegten Sechsergehörn, daß da auch schon hängt. Der allerheimlichste war es von all den alten Böcken, die hier stehen. So lange Büchsenlicht war, hielt er sich in Deckung, er zog immer da, wo dichtes hartes Fallaub jedes Pürschen unmöglich machte, und erst wenn die Eule über dem Klee nach Mäusen stieß, trat er aus dem Bestande. Und gerade, weil er so heimlich war und so gerieben, hatte ich ihn mir zum Opfer erkoren. Höher ist das Gehörn des Bockes, der jeden Abend auf den Klee tritt, stärker das des anderen, der unten in der Wiese warten ließ, in der er fegte und plätzte, um dann, wenn ich ihn schon im Rucksack zu haben glaubte, mit dröhnendem Baß abzuspringen, das war mein Bock. Seine Stunde schlug an einem Montag abend. Wohl zwei volle Stunden rumorte er in dem Buchenaufschlag herum, und gerade wollte das Büchsenlicht ausgehen, als er in das Altholz trat. Einen Augenblick später schnellten seine Läufe im braunen Laub, färbte sein Schweiß den Waldmeister rot. Als er da lag, sah ich wieder ein, wie wenig doch der Schuß mir des Jagens Ziel ist. Schwer war der Bock, rot seine Decke, brav das Gehörn, und doch, und doch, kein Lachen zog um meinen Mund, keinen Schlag mehr tat mein Puls.

Nein, das Beste an der Jagd ist nicht der Schuß. Das Schönste ist das freie Leben da draußen, der rauschende Wald, der blühende Hang, Sonnenaufgang und Abendrot, Morgengesang und Abendlied der Vögel, heimliches Pürschen und stilles Beobachten und das weltfremde Leben in der Stille, wie ich es führe hier im einsamen Bebertal.

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