„Harzträume“

von

Hermann Löns


 

Den Vorfrühling wollte ich noch einmal erleben, den zaghaften, schüchternen April mit seinen ersten Blumen und seinem knospenden Grün. Das flache Land hatte er längst verlassen, und ich dachte, ich fände ihn im Harz wieder. Aber auch da war er nicht mehr. Ganz oben im Brockenmoor, da mochte er wohl sein. Unten bei Scharzfeld und Lauterberg, bei Sachsa und Tettenborn, bei Barbis und Pöhlde suche ich ihn vergebens. Da waren die ersten Blumen schon lange abgeblüht, und das Buchenlaub hatte sich schon voll entfaltet.

Aber heute fand ich ihn doch, ein Restchen davon wenigstens. In dem steilen Felskamin, der in die nachtschwarze Einhornhöhle das Tageslicht und den Sonnenschein fallen läßt. Da ist es feucht, kühl und schattig, da kommt die Sonne, gebrochen durch der Buchen dichte grüne Schleier, nur schwach hin. Und so blühte dort noch das gelbgrüne Milzkraut, die hellblaue Leberblume und das goldne Windröschen über den schweren Moosgobelins, die an den grauen Steinwänden herabhängen. Ich lehne an der Brüstung und sehe in den schwarzen Schacht hinab, aus dem des Tropfenfalls regelmäßiges Klopfen ertönt. Der Morgenwind ruschelt in den Buchen, der Schwirrlaubsänger singt sein schnurriges Lied und silberne Lichter tanzen über die grauen Stämme. Ich will hinabsteigen in das große Grab unter mir, in die unheimliche Höhle, in der sich vor undenkbaren Zeiten das glasklare, strudelnde und sprudelnde Gletscherwasser durch den Kalkfels wühlte, hinabsteigen zu den Schlupfwinkeln verschollener Bärenjäger, von denen wir nichts erbten, wie ein paar Topfscherben und einige Steinwaffensplitter. Kalte Luft streicht mir entgegen, wie ich die Treppe hinabgehe, aus der hellen warmen Gegenwart in die dunkle, kühle Vergangenheit. Durch den Schacht sehe ich noch einmal den blauen Himmel, das grüne Laub und das goldne Sonnenlicht, höre noch einmal des Finkenhahns schmetterndes Lied, dann bin ich dort, wo nur meine Fackel Licht gibt und kein anderer Laut ertönt, als das eintönige Klopfen der Tropfen von den Steinwarzen der Decke. Ueber den weichen, braunen Höhlenlehm gehe ich mit lautlosen Schritten. Ueberall sind die Spuren von Grabscheiten. Die Wissenschaft hat mit dem Spaten hier der Urgeschichte nahe kommen wollen und die Knochen und Zähne vom Höhlenbären im Triumpf in die Museen gebracht. Aber es ist doch nur Stückwerk geblieben, nur Scherben waren es, die man der Vergangenheit abgewann.

Rote Streifen wirft meine qualmende Fackel an die graue, silberig glitzernde Decke, wo das durchsickernde Wasser emsig in unendlich langsamer Arbeit an seltsamen Tropfsteingebilden weiter baut und die Strudellöcher, die des Gletscherbaches gewaltiger Druck höhlte, mit krystallener Tapete überzieht. Auf einen Steinblock kauere ich mich hin, stecke die Fackel in den aufgeweichten Lehm und starre vor mich hin. Rund um mich herum ist Dunkelheit, schwach leuchtet der Fackel Flamme, und Lautlosigkeit, nur vom Geklatsche des Tropfenschlags unterbrochen. Aber tief unten, wo der schwarze Gang ausmündet, scheint Leben zu sein. Dort schleichen kleine, flachstirnige Männer und wirrhaarige Weiber, dünnarmig, wadenlos. Ihre Augen sind schräg geschlitzt, breit springen ihre Backenknochen hervor, das Kinn weicht zurück und die Lippen sind wulstig vorgeschoben. Um ein Feuer scharen sie sich, auf dem an hölzernem Spieß, der von einer braunen Hexe auf zwei im Boden steckenden Zwillen gedreht wird, ein großer Fetzen Fleisch schmort. Alle Augen starren dahin, die der Männer und Weiber, die der halbnackten Kinder, die der struppigen, wolfsähnlichen Köter. Halb gar ist das Fleisch erst, da reißen sie es vom Spieß, zerteilen es mit dem zackigen Feuersteinmesser und schlingen es herab. Und während sich die Hunde um die Ueberbleibsel knurrend balgen, geht ein Tonkrug mit einer trüben Flüssigkeit von Mund zu Mund und ein Weißbart singt das Lied von der schönen Vergangenheit:

"Unser Volk war groß und stark und hatte viele Kinder. Unsere Herrschaft ging über alle Berge, unsere Feinde erschraken, wenn sie unsere Fährten rochen. Wir jagten das Rentier und den Schneeochsen in den Mooren des heiligen Berges und fingen in Gruben den großen Ochsen und den Hirsch, dessen Hörner wie ein Baumzweig waren. Unsere Mädchen glänzten von Fett und hatten bunte Muscheln im schwarzen Haar. Bis die blonden Menschen kamen von Sonnenuntergang, die Zauberer, die Verfluchten, die den Fels schmolzen und blanke Waffen daraus schmiedeten. Unsere Jagdgründe in der Ebene nahmen sie uns, unsere Wälder brannten sie fort. Zu feige waren sie, den wilden Ochsen zu jagen. Sie zähmten ihn und tranken der Kühe Milch. Den Boden gruben sie um und bauten langes Gras und aßen die Körner wie das Vieh. Wir, das große Jägervolk, mußten weichen vor den Fremden. Wir zogen in die Berge und krochen in die Höhlen. Wir frieren und müssen hungern. Unsere Männer wurden schwach, und unsere Kinder starben früh. Wir wollen viele Feinde fangen und sie auf dem heiligen Berge schlachten. Ihr Blut soll die weißen Blumen rot färben. Das wird den Geist uns wieder hold machen, der sein Volk vergessen hat. Wir werden wieder stark werden und zahlreich und werden alle Feinde töten. Köpfe sollen auf Stangen stecken vor unseren Hütten und unsere kleinen Söhne werden mit Pfeilen danach schießen."

Ein zischender Pfiff ertönte. Da stoben sie fort in den Stollen hinein .... Ich ging weiter, tief gebückt, bis der Gang sich weitete und ein hoher Saal sich über mir wölbte. Eine Tafel kündete mir, daß hier einst auch Schiller hinabgestiegen war, um mit seinen großen Dichteraugen verschollener Zeiten Gestalten zu sehen. Mir war, als sähe ich ihn, ehrfürchtiges Staunen in dem schmalen, lockenumflossenen Gesicht, und ich dachte an die hungrigen Jäger, die ich eben belauschte, und daß bei des Menschen wären, Wesen derselben Art. Wir sind so stolz geworden und so hochmütig, wir modernen Menschen. Von der Höhe unserer Bildung sehen wir herab auf die Vorzeit. Mit Lächeln betrachten wir in den Museen die Steinwaffen, lächelnd staunen wir der Aegypter Bildwerke an. Aber wenn die Zeit sich erfüllt haben wird, dann wird die Wissenschaft der Zukunft in den Trümmern unserer Städte wühlen, und kommende Geschlechter werden lächelnd unsere Maschinen betrachten und über die kindliche Auffassung in unseren Büchern sich wundern, stolz auf ihre Kultur.

Mich fror bei den kalten Schatten der Vergangenheit, und ich stieg in die warme Gegenwart empor, wo die Buchen ihre grünen Seidenfähnchen schwenkten, wo die Blumen blühten und die Vögel sangen, ging über die weite Wiese, wo Maßliebchen und Schlüsselblumen sich der Sonne freuten, und wo die bunten Schmetterlinge flogen, tauchte wieder im Walde unter, wo über dünnen schnellrieselnden Wasserfäden zierliche Zwergfarne die hellgrünen Wedel breiteten, stieg die heiße Halde empor, wo die Wolfsmilch golden prangte, und trat in die Trümmer der alten Burg Scharzfels.

An ihren grauen Klippen und grünübersponnenen Mauerresten sah ich hinauf. Silbern blühten die Erdbeeren in den Spalten, goldig das Fingerkraut, hell schien die Sonne und fröhlich pfiff der Star. Wieder aber stieg die Vergangenheit in mir auf. Glänzende Ritterfeste sah ich und lodernde Fackeln, hörte das Jauchzen der bunten Menge und das Zischen der Pfeile, hörte Gelächter und Sterbegestöhn. Des unseligen Vierten Heinrich Gesicht sah ich, des Vermessenen, der Volksrechte nicht achtete und Landeswohl vergaß und schmählich in Canossa auf den Knieen liegen mußte. Braun gebrannte Gesellen lösten ihn ab, frische Burschen, Federn am grünen Hut, die Büchsen in den harten Fäusten. Die lagen hinter den Felsen, und wenn ein Franzosenkopf sich blicken ließ, da knallte es, und das Moos wurde rot. Als aber die Uebermacht zu groß wurde, da verschwanden sie bei Nacht und Nebel, die verwegenen Harzer Schützen, und der tapfere Issendorf mußte sich ergeben. Die Schüsse hörte ich noch knallen, mit denen die erbosten Franzosen die Burg zerstörten.

Aber es waren die Sprengschüsse aus den Steinbrüchen zu beiden Seiten der Oder. Da macht jetzt der kleine Mensch die großen Berge klein. Er schneidet Straßen in die Berge und legt Eisengeleise durch die Täler und dünkt sich groß und gewaltig. Oben von der höchsten Bastei sah ich in das bunte Odertal hinunter. Unter mir blühten die Kastanien und der Flieder, rauschten die Platanen, die die Kreuzfahrer einst mitbrachten aus dem Morgenland. Und unter mir starrte nacktzweigig die Akazie, die wir aus Amerika holten. Nach den grauen Zinnen der Steinkirche sah ich, von der einst die Wanderpriester die neue Lehre verkündeten, nach dem alten Wartturm, in dem einst raubfrohe Ritter nach den Frachtwagen der Hansastädte spähten, sah bis zu den Feldköpfen des Bebertales, wo im dreißigjährigen Kriege blühende Dörfer in Flammen aufgingen. Viele Jahrtausende gingen mir durch den Sinn, Urmenschentum und Ritterzeit, Kriegsgreuel und friedliche Eroberung durch Christi Lehre, und ernst gestimmt, stieg ich zum Walde hinab. Lustiges Volk begegnete mir, lachend, schwatzend, singend, Harzfahrer, die sorgenlos ihres Weges zogen. Zwei alte Frauen, tief gebückt, die schweren Reisigbündel auf den Rücken, keuchten bergab. Der Schweiß lief ihnen über die faltigen Gesichter. Am Ufer der lustigen Oder stand ich dann und hörte ihrem Rauschen zu. Drüben im Kirchholz rauschte der Wind in den Buchthen. Menschen werden lieben, Menschen werden leiden. Aber gleichgültig wird neben ihrer Lust und ihrem Leid die Oder vorüberrauschen, gleichgültig werden die Buchen rauschen über ihrem Wehe und ihrer Wonne.

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