Festkolloquium 15 Jahre Studentenzirkel Speläologie
Bergakademie Freiberg 1980                 S. 123-124

Dieter Mucke

Marienglashöhlen - ein Fortschrittsbericht

Im Zechsteinausstrich des Harzes sind seit langem Anreicherungen des als Marienglas oder Fraueneis bezeichneten, grobspätigen Gipses bekannt. Sie waren vielerorts Gegenstand bergmännischer Gewinnung; die Verwendung des Marienglases reichte über den Einsatz als Fensterscheiben über die Ausschmückung von Marienbildern bis zu besonders reinem Rohgips für die Herstellung von technischen Branntgipsen. Wenn einzelne solcher alten Abbaue im Volksmund als (Marienglas-) "Höhlen" bezeichnet werden, ist das keinesfalls so gemeint, daß der Hohlraum im Sinne der Speläologie natürlich entstanden sei. Selbst von der Friedrichrodaer "Marienglashöhle" einer Kombination von Schauhöhle und Schaubergwerk - ist nicht klar, wie groß ein eventueller natürlicher Resthohlraum inmitten der meterlangen Kristalle gewesen sein mag.
Spaltenfüllungen grobspätigen Kalzits im Kalkstein vergleichbar, wurden solche Marienglasanreicherungen bisher als irgendwelche Spaltenfüllungen aufgefaßt und nicht mit der Verkarstung in Zusammenhang gebracht. 1976 zeigte mir Dr. J. Ziebell (Rottleberode) ein im Gipssteintagebau Rottleberode neu angefahrenes Marienglasvorkommen. Bei näherer Betrachtung dieses idealen Aufschlusses und Suche nach den für Spaltenfüllungen typischen, ebenflächigen Salbändern bemerkte ich, daß die Marienglaskristalle dort nicht ebenen Kluftwänden, sondern konkav gewölbten, glatten, sich gegenseitig anschneidenden Flächen aufsitzen. Solche Form und Orientierung können aber nur Höhlenwände haben. Zielgerichtet untersuchte ich daraufhin das auflässige Marienglasbergwerk bei Hainrode, die Spatenberghöhle bei Stempeda und die Questenhöhle bei Questenberg und kam zur Auffassung, daß es sich bei den untersuchten Marienglasvorkommen um die vollständige Füllung von Höhlen mit langprismatischen Gipskristallen handelt. Während die drei erstgenannten Vorkommen durch Bergbau aufgeschlossen sind, durchschlägt mit der Questenhöhle eine Karsthöhle einer jüngeren Generation die marienglasmineralisierte alte Höhle. Damit ist die Existenz von mindestens zwei altersunterschiedlichen Gipehöhlengenerationen nachgewiesen (MUCKE 1978). So, wie es heute in Gipshöhlen Teile mit gewölbten Decken und Wänden neben solchen mit ebenen Kluftflächen als Raumbegrenzung oder überhaupt reine Klufthöhlen gibt, kommen natürlich auch marienglasgefüllte spaltenartige Räume vor. Soweit die Hypothese über die Natur zumindest einiger Marienglasvorkommen als fossile Höhlen - basierend auf gesicherten Feldbeobachtungen.
Bei der Rekonstruktion des physikochemisch-hydrologischen Bildungsmechanismus ergeben sich allerdings neue Fragen. Dazu eine Beispielrechnung:
Ein kugelförmiger Hohlraum von 100 m³ Rauminhalt hat ca. 5,75 m Durchmesser. Bei einer Dichte von 2,3 g/cm³ müssen 230 t Gips aufgelöst und weggeführt werden, wenn ein solcher Hohlraum im Gipsgestein angelegt werden soll. Bei einer maximalen Löslichkeit von 2 g Gips/Liter Wasser (= 2 kg Gips/m³ Wasser) sind also 115 000 m³ Wasser erforderlich - das würde z.B. einen zylinderförmigen See von 100 m Durchmesser und 14,65 m Wassertiefe entsprechen. Da solche und wesentlich größere Hohlräume aus vielen Höhlen bekannt sind, soll das nicht weiter verwundern. Durch unseren Modellhohlraum müssen in geologischen Zeiträumen entsprechende Wassermassen geflossen sein, selbst wenn er (wie anzunehmen) zur Zeit seiner Bildung im tiefen Karst lag.
Aber heute ist unser Hohlraum ja wieder voll mit Gips mineralisiert. Das heißt - da die Kristalle von der Hohlraumwand nach innen gewachsen sind - weitere 115 000 m³ Wasser (diesmal gesättigter Lösung) müßten unter Ausscheidung ihres gesamten Gipsinhaltes diesen Hohlraum passiert haben. Das ist praktisch ohnehin nicht möglich, so daß tatsächlich noch wesentlich größere Wassermassen den Hohlraum unter Ausscheidung eines Teiles des gelösten Gipses durchströmt haben müssen. Auch das ist hydrologisch vorstellbar. Unter welchen Bedingungen wird aber Gips überhaupt aus einer gesättigten Lösung ausgeschieden? Wenn seine Löslichkeit überschritten wird: durch gleichionigen Zusatz, Verdunstung des Lösungsmittels oder Änderung der Temperatur. Zur Realisierung der ersten Möglichkeit wären komplizierte Hilfsannahmen nötig - am ehesten kämen wohl noch Calcium-Ionen aus hydrogenkarbonatischen Karstwässern in Frage. Verdunstung als 2. Möglichkeit ist in einem total wassererfüllten Hohlraumsystem im tiefen Karst schwer vorstellbar. Bleiben Temperaturänderungen als Möglichkeit, die jedoch vielfach aufgetreten sein müssen, um die völlige Ausfüllung des Hohlraumes zu erklären. Eine Temperaturänderung der gesättigten Lösung von 18 °C (= 2,55 g/l) auf 10 °C (= 2,44 g/l) würde die Ausscheidung von ca. 0,1 kg Gips/m³ Lösung ermöglichen. Um den betrachteten Hohlraum voll zu mineralisieren, müßte sie also 23000 mal aufgetreten sein, was für eine jahreszeitlich bedingte Ausscheidung sprechen würde. Noch nicht beobachtet wurden Marienglasvorkormnen in Anhydrit. Vielleicht ist die Füllung der alten Höhlen auch mit der tertiären Bildung der Gipsrinde aus den Anhydriten in Zusammenhang zu bringen.

Zusammenfassend sei festgestellt, daß Marienglasvorkommen im Zechsteinausstrich zwar sicher mineralisierte, fossile Höhlen sind, die Erklärung ihrer Entstehung jedoch einige Schwierigkeiten bietet. Alle Interessenten sind aufgefordert, mit weiteren Beobachtungen und Überlegungen zur Lösung dieses Problems beizutragen.

Quelle:

MUCKE, D.:Höhlenbildung im sulfatischen Zechstein des Südharzes - Ergebnisse vergleichender geologischer Beobachtungen. Vortrag zum Festkolloquium 50 Jahre organisierte Höhlenforschung im Harz, Frankenhausen 1978 (im Druck)

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