200 Jahre Bleiweißfabrik Die Bleiweißfabrik in Osterode bildete die Basis für den ungeheuren Reichtum der Familie Schachtrupp. Gegründet wurde sie von Oberfaktor Johann Friedrich Schachtrupp, dessen Todestag sich im Januar 2012 zum 190. Mal jährte. Sie waren in vielen Dingen der Zeit weit voraus Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, freie Arztbehandlung und kostenlose Medikamente: Die Arbeit mit Bleiweiß forderte ihren Tribut - von Heike Grobis - Die Schachtruppvilla in Osterode - meist salopp „Kaffeemühle“ genannt - rückt nach Übernahme durch die Wirtschaftsbetriebe Osterode (Wibo) mit geplanter Restaurierung wieder mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Die Bleiweißfabrik am Scheerenberg, ebenfalls ein Bau der Familie Schachtrupp, verdient ein ebenso starkes Interesse, ist jedoch im Laufe der Zeit in den Hintergrund gerutscht. Ein Gemälde der Bleiweißfabrik. Im Vordergrund links ist die Eskorte und Kutsche des Königs Ernst August von Hannover zu erkennen, der im Jahr 1839 die Fabrik besuchte. Ein weiteres interessantes Detail ist der hohe Hagelturm der Fabrik. Fotos: Stadtarchiv Osterode
Dabei darf man nicht vergessen, dass diese Fabrik erst die Basis gebildet hat für den ungeheuren Reichtum der Familie, welcher den Bau der einzigartigen Villa überhaupt erst ermöglichte. Aus Anlass des 200. Fabrik-Geburtstages sei daher noch einmal an sie erinnert; ebenso an ihren Gründer, Oberfaktor Johann Friedrich Schachtrupp, der seine Bleiweißfabrik nur zehn Jahre überlebte und dessen Todestag sich am 7. Januar 2012 zum 190. Mal jährte. Die Familie Schachtrupp stammte aus Westfalen („Scagdorpe“ bedeutet Schafdorf) und nahm 1653 mit Burchard seinen Anfang in Osterode. Durch seine Heirat mit Anna König aus wohlhabender Kaufmannsfamilie gelang gleich der soziale wie wirtschaftliche Aufstieg, und schon bald nahmen sie am Eisen- und Tuchhandel teil. Zentrum wie Ausgangspunkt des beruflichen Werdegangs war das sogenannte „Stammhaus“ Ecke Martin-Luther-Platz / Aegidienstraße (1882 abgebrannt) , 1667 gebaut von Burchard und Anna König. Dort entstand eine Art Ladengeschäft von „überregionalem“ Ruf, in welchem wohl auch mit Tuchen gehandelt wurde. Der Ururenkel von Burchard, Johann Friedrich, geb. 1773, war zunächst ebenfalls in dieser Familien-Kaufmannshandlung tätig; dann ging er eigene Wege: um 1800 heiratete er in Clausthal die Tochter eines Berghandlungsfaktors, begann 1806 in einer Scheune (wohl in der Aegidienstraße) mit ersten Bleiweißversuchen, baute dann 1809 dafür am besagten „Stammhaus“ noch ein großes Hinterhaus an. Bereits 1811 waren die Bleiweißversuche - zum Beispiel für Schiffsfarbe - so erfolgreich, dass er auf dem Scheerenberg den Bau einer großen Fabrik begann, die 1812 ihren Betrieb aufnehmen konnte. Bis hierhin war sein Werdegang der einer „üblichen“ Karriere. Um zu verstehen, warum diese Fabrikanlage (auch unter seinem Sohn und Erben) zu einer regelrechten Sehenswürdigkeit für Besucher aus nah und fern aufsteigen konnte und beide Fabrikbesitzer (modern gesagt) eine große Fangemeinde hatten, muss man die begeisterten Berichte von Zeitzeugen kennen. Zunächst sollte man keine „normale“ Fabrik vor Augen haben, sondern ein Gelände voller rötlicher Gebäude (zuletzt 20), mittendrin ein regelrechtes Herrenhaus mit einem 40 Meter hohen „Hagelturm“, umgeben von einer Art „Freizeitpark“: Erwähnt werden eine „Menagerie“ mit Hirschen, „wilden Tieren“ und Federvieh; eine ganze Herde Schweizer Kühe auf einer Weide neben der Fabrik, sämtliche mit Glocken behängt; oberhalb der Kuhherde eine Obstanlage mit „köstlichsten, edelsten Obstarten“, Spazierwege mit Vogelhaus, Chinatempel, Springbrunnen und 'Orangerie. In diesem „Lusthain“ lag direkt an einem Waldbach eine Kegelbahn. Zudem gab es ein eigenes Berghornistenkorps, 20 Mann in Uniform, die nicht nur zu den jährlichen öffentlichen „Bergfesten“ aufspielten, sondern auch an lauen Sommerabenden, am Scheerenberg wie am Lindenberg, und zwar für die gesamte Bewohnerschaft von Osterode bis Clausthal. Nicht zuletzt befand sich auf dem riesigen Gelände ein „Stall voll trefflicher Pferde“, genau gesagt 95 „Luxuspferde“, sowohl schwarze Araber als auch gelbweiße Isabellen-Kutschpferde. Nebst einem „Kosakenpferd“ namens „Don Kosak“ gab es etliche andere edle Rassen. Immerhin so edel, dass sich der König von Hannover selber Tiere holte für sein Achtergespann. Und seit König Ernst August 1839 einer Einladung gefolgt war und sowohl Bleiweißfabrik wie auch Schachtruppvilla besucht hatte, besaß das Herrenhaus der Fabrik ein „Königszimmer“. Die Bleiweißfabrik um das Jahr 1900. Zu dieser Zeit gehörte sie bereits nicht mehr der Familie Schachtrupp. Soviel zum „Freizeitbereich“ um die Fabrik herum. Dieser diente einem ganz bestimmten Zweck: Die Rohstoffe, die zum Beispiel für Bleiweißfarbe verarbeitet wurden, waren extrem giftig. Nach Augenzeugen litten wohl sogar Haare und Augen darunter; auch die sogenannte „Bleiweißkolik“ war gefürchtet. Da der Oberfaktor Schachtrupp (Vater und später Sohn) sich jedoch ungewöhnlich verantwortlich fühlte für seine Arbeiter - auffallend früh in dieser Zeit der aufkommenden Industrie, welche die Arbeitskraft eher rücksichtslos ausbeutete - unternahm er alles, seinen Arbeitern das Leben erträglich(er) zu machen. Das schien zu gelingen, denn man liest staunend von „Gesang bei der Arbeit und in den Freistunden nebst Spiel und Tanz.“ Aber eben auch der oben beschriebene „Freizeitpark“ gehörte dazu, der täglich allen offenstand - nicht nur den Arbeitern, auch allen Gästen und Geschäftsfreunden - aber auch seine persönliche „soziale Ader“ lange vor Bismarcks Sozialgesetzgebung. Denn bei ihm gab es nicht nur wie in ähnlichen Fabriken Vorsichtsmaßnahmen wie regelmäßiges Haare- und Nägelschneiden, sondern eine Versorgungskasse mit Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, freie Arztbehandlung und kostenlose Medikamente. Außerdem blieben alle, die durch „Altersschwäche“ oder „Körperkränklichkeit“ arbeitsunfähig geworden waren, auf Lebenszeit „im Brode“ des Oberfaktors, und zwar als Diener. Ein Zeitzeuge nannte dies eine „geräuschlose Wohltätigkeitsliebe“. Jedoch steht zu befürchten, dass die Familie Schachtrupp ihre Häuser samt Ställe selber mit Bleiweißfarbe behandelte, wie man bei der Renovierung der Neustädtertorschule sicher festgestellt hatte, welche ursprünglich Wohnhaus mit Stallung gewesen war für den dritten Schachtrupp-Sohn, Carl August Friedrich. Gesetzt diesen Fall, hätte man die Arbeiter „aus Versehen“ doppelt vergiftet. Das Stichwort „Gesundheit“ bringt uns wieder zurück zum Fabrikgründer, Johann Friedrich. Dieser wollte sich nach seinem 50. Geburtstag zurückziehen und seinem ältesten Sohn die Fabrik überlassen; mag sein, schon aus gesundheitlichen Gründen. Jedenfalls kaufte er 1819 auf dem Lindenberg mehrere Gärten auf, um dort ein Haus zu bauen. Firmengründer Johann Friedrich Schachtrupp 1773-1822.
Die Grundsteinlegung der Schachtruppvilla erlebte er noch, starb jedoch völlig unerwartet am 7. Januar 1822, weshalb der Bau der Villa zunächst unterbrochen wurde und der Sohn die Fabrik sofort übernehmen musste. Neben Bleiweiß stellte man dort auch „Hagelkörner“ her, also Schrotkugeln, wofür man den 40 Meter hohen Hagelturm brauchte: das Blei wurde gekocht und in die Tiefe gestürzt. Allein dieser Turm wird beschrieben als „grandios“ und die „Landschaft verschönernd“. Außerdem im Programm war unter anderem Kremserweiß, Bleiglätte, Bleizucker, Kupfervitriol und kristallisierter Grünspan. Das Hauptprodukt Bleiweiß ging seinerzeit um die Welt: nach Norddeutschland, Skandinavien, Holland, Amerika, Asien, Afrika, Russland, Java, Sumatra; 1839 soll die türkische Flotte damit gestrichen worden sein. Natürlich war die Nähe Clausthals mit den Bleigruben ungemein günstig. Als die Bleipreise 1820 bis 1826 stiegen, machten die Schachtrupps einen jährlichen Reingewinn von 200000 Talern. Somit gab es Arbeit für 150 bis 200 Menschen, Männer und Frauen - die auch sonntags arbeiten mussten - aus Osterode, Freiheit und Lerbach. Um diese kümmerten sich Aufseher und Verwalter, die auf dem Scheerenberg wohnten. Doch bereits 1832 ging der Absatz stark zurück; die Konkurrenz holte dank billigerer und modernerer Herstellung auf. Die Gewinne sanken jährlich, die privaten Ausgaben für die extrem teuren „Hobbys“ wie die wertvolle Pferdezucht und die außerordentlich kostspielige Lebensführung in der mondänen Schachtruppvilla wurden beibehalten, und so rückte das Ende näher. Seit dem Tod des Gründers Johann Friedrich 1822 hatte der Sohn Johann Georg Wilhelm die Fabrik weitergeführt und ausgebaut. 1854 verließ er Osterode Richtung Braunschweig (wohl, um nicht dem Ende seines Lebenswerkes aus der Nähe zusehen zu müssen), und wiederum dessen Sohn Johann Friedrich (somit Enkel des Gründers) verkaufte als erste Notfallmaßnahme das wertvolle Mobiliar der Schachtruppvilla bzw. später Villa und Park selber, aber der Absturz war nicht mehr aufzuhalten. 1867 folgte die Einstellung von Hagelblei, 1872 die Umwandlung in eine AG, 1879 kam es zum endgültigen Zusammenbruch. 1882 ist Franz Hoelemann („Harzer Bleiwerke Hoelemann & Wolff“) neuer Besitzer mit Fortsetzung der Bleiweißherstellung; 1904 erfolgt die Übernahme durch die Familie Werner. Wohl sind mit Ausnahme des Hagelturms die Gebäude der Fabrik noch erhalten, aber an den einstigen „Freizeitpark“ erinnern nur noch zeitgenössische Abbildungen und Zeitzeugen-Berichte. GPS-Koordinaten |