Aus der Geschichte der ehemaligen Grafschaft Lauterberg-Scharzfeld Von August Böttcher Die überaus malerische Felsenburgruine Scharzfels dürfte wohl jedem Leser bekannt sein. Der Fremde, der die Felsen- und Mauertrümmer aus frischem Grün hervorblicken sieht, vermutet im ersten Augenblick wohl kaum, daß er die Reste einer altehrwürdigen Ritterburg vor sich hat. Er wird dessen aber sofort inne, wenn er sich auf dem geräumigen Burghof befindet. Nur elende Trümmer sind es leider, die von „längst verschwundener Pracht“ reden. Aber immerhin bietet der Aufenthalt dem geschichtskundigen Besucher manches, was er auf dem alten Felsenneste kaum vermutet hätte. Leider denken sich viele Besucher kaum etwas dabei, wenn sie sich die Ruinen ansehen. Fremde tragen wohl ein kleines Heftchen in der Hand, das sie für wenige Groschen im Hotel Schuster am Bahnhof Scharzfeld erstanden haben und suchen sich notdürftig über das Wissenswerteste zu unterrichten. Einheimische aus den benachbarten Dörfern Barbis und Scharzfeld, die häufig des Sonntags Gäste der Ruine sind, um hier nach schönem Spaziergang durch den schattigen Buchenwald ihr Butterbrot zu essen, ein Gläschen Bier zu trinken oder einem hier oben oft stattfindenden Wetturnen zuzusehen, kümmern sich wenig um die Geschichte der Felsenburg. Ihnen genügt es allenfalls, auf die Ruinen zu klettern und den herrlichen Ausblick zu genießen, der nordwärts durch die nahen Harzberge und im Süden durch mehrere, in blauer Ferne verschwindende, Bergzüge des Untereichsfeldes begrenzt wird. Die folgenden Zeilen sollen dazu beitragen, daß die Geschichte dieser Burg in ihren Hauptzügen in unsere Heimat etwas bekannter wird. Die alten Schreibweisen des Burgnamens sind: Scartfeld, Scartfelth, Scartwelde, Schartfeld. Ob der Namen mit „Harzfelsen“ etwas zu tun hat, bleibe dahingestellt. Die Besitzer waren das freiadelige Geschlecht des Grafen von Scharzfeld, deren Familie seit etwa einem halben Jahrtausend ausgestorben ist. Ueber der Geschichte dieses Geschlechtes wie auch der Burg liegt an vielen Stellen tiefes Dunkel. Ueber die Entstehung der Burg, ihre Gründungszeit usw. ist so gut wie nichts bekannt. Die Jovinssche Nachricht, nach der ein Scharzfeld-Lutterbergisches Grafengeschlecht bereits vor Anfang des 13. Jahrhunderts ausgestorben, ebenso die Kunde, daß der Scharzfels durch Kaiser Heinrich II. als Sachsenzwingburg erbaut sein soll, läßt sich durch nichts beweisen. Als Sachsenzwingburg hat Scharzfeld sicher nicht bestanden; denn sonst wäre sie ebenso gut wie die Harzburg in den altsächsischen Urkunden erwähnt. Sicher hätten dann die Sachsen, an deren Spitze die Grafen Otto von Nordheim und Dietrich von Catlenburg standen, ihre Angriffe auch gegen diese Burg gerichtet. Davon aber berichtet die Geschichte nichts. Nach Angabe eines Unbekannten soll Heinrich IV. das Schloß Scharzfeld samt dem Zehnten aus den Goslarschen Bergwerken und der Schutzvogtei über das Kloster Pöhlde ums Jahr 1091 dem Edlen Wittekind von Wolfenbüttel zu Lehen gegeben haben. Als dann dieser Wittekind im Jahre 1118 ohne männliche Erben starb, sei die Burg als eröffnetes Reichslehen an das Reich zurückgefallen. Verbürgt werden aber auch diese Angaben durch nichts. Die erste Urkunde, die unsere Burg ausdrücklich nennt, stammt aus dem Jähre 1130. Auf dem Reichstage zu Goslar gab der Kaiser Lothar auf Wunsch des Erzbischofs Norbert von Magdeburg die Abtei Allsleben an der Saale an Magdeburg und tauschte dafür die Burg Scharzfeld nebst allem Zubehör ein. Vor diesem Tausche muß also Scharzfeld ebenso wie Pöhlde zum Erzstift Magdeburg gehört haben. Wie Scharzfeld in Magdeburgischen Besitz gekommen ist, wird nirgends berichtet, während eine diesbezügliche Urkunde von Pöhlde aus dem Jahre 981 — von Otto II. ausgestellt — noch vorhanden ist. Kurze Zeit nach diesem Tausche treten in mehreren Urkunden Herren und Grafen von Scharzfeld auf, die anscheinend erst von Kaiser Lothar mit der Burg Scharzfeld beliehen worden sind. Den Grafentitel (comes) nahmen die Edlen von Scharzfeld wohl nur deshalb an, weil sie Inhaber des Grafengerichts in ihrem Burgbezirke waren. Die Grafenwürde des Lisgaues hatten nämlich die Catlenburger inne. Auf ein direktes Lehnsverhältnis zwischen dem Kaiser und den Scharzfelder Grafen weist auch der Umstand hin, daß Graf Sigbodo I. von Sch. sich häufig am Hoflager Kaiser Konrads III. aufhält und kaiserliche Urkunden mit andern kaiserlichen Lehnsttägern zusammen bezeugt, so 1145, 1149 und 1150. Es wird zwar nur Segeboto Scharteveld genannt, gehört aber, wie aus der Bezeichnung nobilis hervorgeht, zum hohen Adel. Das wird auch durch spätere Urkunden verschiedentlich bewiesen. Am 1. Januar 1157 hören die Scharzfelder Grafen, auf, unmittelbare Reichsvasallen zu sein. An diesem Tage übertrug nämlich Friedrich Barbarossa seinem Vetter Heinrich dem Löwen, dem Erben der Catlenburgischen Güter, nicht nur das Grafenamt im Lisgau und im Harze, sondern schloß mit ihm auch einen Tauschkontrakt ab, nach dem die Schlösser Scharzfeld und Herzberg sowie das Gut Pöhlde mit allem Zubehör als erbliches Eigentum an Heinrich den Löwen fiel, wogegen Friedrich die schwäbischen Güter Heinrichs bekam. So wurden die Scharzfelder Grafen Dienstleute Heinrichs des Löwen. Als die drei Söhne des Löwen ihr väterliches Erbe im Jahre 1203 teilten, fiel das Schloß Scharzfeld (castrene scartuelt) mit der dazu gehörigen Burg Lauterberg an den späteren Kaiser Otto IV. Die Burg Lauterberg, die bei dieser Gelegenheit zum ersten Male genannt wird, war anscheinend erst kurze Zeit vorher erbaut und wurde später die Veranlassung zur Teilung des Stammes. Zu dieser Zeit taucht auch unter dem Namen Heidenricus der erste Graf von Lutterberg auf. — Zur Orientierung möge folgende Stammtafel dienen: (Die Zahlen unter den Namen geben das Jahr der ersten und letzten urkundlichen Erwähnung an.) Hinsichtlich ihrer Besitzungen und ihrer historischen Bedeutung können die Scharzfelder nicht mit den Northeimer, Catlenburger und Honsteiner Grafen verglichen werden. Aber auch den unbedeutenden Geschlechtern darf man sie nicht zuzählen, wie aus ihrem ausgedehnten Besitz hervorgeht. Sie besaßen zunächst die Herrschaft Scharzfeld, die die Dörfer Scharzfeld, Barbis, Bartolfelde, Osterhagen, Wittagerode und Berengoze (Wüstungen bei Bartolfelde) und Königshagen (jetzt Wüstung bei Barbis) umfaßte. Außerdem gehörte ihnen die Herrschaft Lutterberg, die unmittelbar an das Scharzfelder Gebiet grenzte, viele Besitzungen auf dem Obereichsfelde (Beberstadt, Birkungen, Dingelstadt), dem Untereichsfelde (Nesselröden, Neuendorf, Tastungen, Teistungen, Seulingen, Westerode, Seeburg und Gieboldehausen) in den Grafschaften Honstein und Lohra und in den Fürstentümern Göttingen und Grubenhagen. Sie hatten Besitz an Grund u. Boden bei Osterode, Lasfelde und Förste, in Wanemangere (Wüstung bei Catlenburg), in Holtensen, Immenhusen und Angeroden (Wüstung bei Hilwartshausen im Solling). Außerdem gehörten ihnen, die halben Dörfer Langenhagen und Fuhrbach bei Duderstadt, die Bramburg und der Bramwald, das Vorwerk Düna bei Herzberg, die Güter Klein-Königshagen und Güntersen bei Dransfeld. Sie besaßen außerdem ganz oder teilweise die Zehnten zu Bilshausen, Bernshausen, Hattorf, Varenbruch, Hermelingerode, Hagen, Pöhlde, Rhumspringe, Edingerode, Besekendorf, zu Schnedinghausen bei Northeim, zu Holtensen bei Moringen, zu Weende und Niedernjesa bei Göttingen, zu Eltershausen, Gerdenbeke (Gärtenbach) an der Werra und zu Gimte bei Münden, endlich die Schutzvogtei über die Klöster Pöhlde, Teistungenburg und Hilwartshausen, über die Kirche (wahrscheinlich das Kollegiatstift St. Martin) zu Heiligenstadt und über die Dörfer Hermelingerode, Klein-Königshagen, Teistungen, Breme, Berlingerode und Hundshagen. Das Schloß und die Herrschaft Lutterberg, ein Burglehen zu Gieboldehausen, die Güter in der Goldenen Mark, im Gericht Gieboldehausen, um den See zu Berenshausen und in Thüringen trugen sie vom Stifte Quedlinburg zu Lehen. Die meisten der oben angeführten Zehnten trugen sie vom Erzstift Mainz zu Lehen. Auch die Braunschweiger Fürsten waren ihre Lehnsherren. In einer ansehnlichen Reihe von Gütern waren sie reichsunmittelbare Vasallen, Während ihnen umfangreiche Besitztümer auch als freies Eigentum gehört zu haben scheinen. Bei so zahlreichem und ausgedehntem Besitz nimmt es nicht Wunder, daß u. a. auch viele angesehene und bekannte Adelsgeschlechter zu den Untervasallen der Scharzfelder Grafen gehören, so die Herren v. Berlepsch, von Besekendorf, v. Bosingen, v. Badenhausen, v. Hagen, v. Hardenberg, von Bodenstein, v. Espelingerode, v. Grone, v. Lemmershausen, v. Madefem, v. Minnigerode, von Mutzesal, v. Ritelrode, v. Sneyn (Schnesen), v. Sulingen, v. Susa, v. Uderde (Uehrde), v. Woldershausen. Von den thüringischen Adelsgeschlechtern gehörten die von Ebeleiten, v. Wangenhaym, v. Sundershausen, v. Bizenbach, v. Werterde und v. Riekersliebin (Rüxleben) zu ihren Aftervasallen. — Der größte Teil dieser Adelsgeschlechter ist ausgestorben; einige von ihnen aber blühen heute noch. Im letzten Jahrhundert ihres Bestehens zeigte das Wappen der Scharzfelder einen dreieckigen quergeteilten Schild, auf dem sich oben ein schreitender Löwe und unten drei Balken befanden. Da Tierbilder auf Wappenschildern erst verhältnismäßig spät auftauchten, so sind als ältester Teil des Wappenbildes die drei Balken anzusehen. Der Löwe wird, wie das öfter geschah, später aufgenommen sein, um das Lehnsverhältnis zu den Braunschweiger Herzögen anzudeuten. Als die Scharzfelder Grafenlinie ausgestorben war, fiel die Herrschaft nicht etwa, wie man hätte annehmen können, an die Grafen von Lutterberg, die Stammesvettern der Scharzfelder, sondern an die Grafen von Honstein. Wie das zuging, ist bis heute noch nicht aufgeklärt. Der als sehr unzuverlässig bekannte Letzner schreibt in seiner Dasselschen Chronik: „Burchards IV. Tochter Mathilde nahm der Graf Heinrich von Honstein, des Namens der Zweite und bekam mit ihr das Haus Scharzfeld, seinem Sohn Dietrich ward Scharzfeld wieder genommen, aber Graf Heinrich IV. hat es mit Hülfe der Grafen von Waldeck wieder an sich gebracht.“ Diese Nachricht steht aber mit einer Urkunde aus derselben Zeit in Widerspruch, die besagt, daß die Grafen Albrecht und Friedrich von Wernigerode ihren Kastellan, den Knappen Dietrich von Clüsingen auf Scharzfeld haben. Danach waren die Wernigeröder wenigstens vorübergehend im Besitze der Burg. Aus anderen Urkunden scheint hervorzugehen, daß die Grafen von Wernigerode sich schon zu Lebzeiten der letzten Scharzfelder Grafen der Burg bemächtigt haben, denn die letzten Urkunden der Scharzfelder sind sämtlich außerhalb der Burg ausgestellt. Zudem werden sie in einem Zeugenverhör von 1323 als aus ihrer Burg verjagt und verarmt bezeichnet. In diesem Jahre hatte der Abt des Klosters Reiffenstein mit seinen hörigen Bauern zu Berkungen einen Rechtsstreit. In einem in dieser Sache abgehaltenen Verhör sagte ein alter Priester folgendes aus: Graf Burchard von Scharzfeld und seine Brüder hätten dem Kloster 17½ Hufen Landes vor Berkungen mit allen hörigen Bauern in und außer dem Dorfe geschenkt. Nicht lange nachher sei einer dieser Grafen wieder in das Kloster gekommen, nur mit einem Pferde und ganz verarmt aussehend und habe unter anderem gefragt, ob sie von den Grafen irgend ein Unrecht erlitten, und ob die hörigen Leute, die sie dem Kloster geschenkt, in irgend etwas widerspenstig seien. Nach einer anderen Zeugenaussage hatten die Grafen von Scharzfeld, da „einige ihre Burg erobert und sie verjagt hatten“, weinend gesagt: „Da wir gleichsam verarmt find und nichts haben, so wollen wir, was wir noch haben, Gott und der seligen Maria verehren.“ Mit diesen Worten übergeben sie dem Kloster Reiffenstein die genannten 17½ Hufen mit den Hörigen. — — — Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges war die Burg Scharzfeld, wie aus Merians Kupferstich aus dem Jahre 1650 hervorgeht, noch bewohnt. Häufig hat sie in der Zeit bis zu diesem schrecklichen Kriege fürstliche Gäste beherbigt. 1557 diente sie der Gräfin Anna von Honstein als Witwensitz. Die Herzöge von Grubenhagen benutzten sie als Jagdschloß. Im Sommer 1655 hielt sich Herzog Christian in seinen Mauern auf. Honemann („Altertümer des Herzogs“) schreibt darüber: „Am 31. des Heumonats langete derselbe zu St. Andreasberg an, des anderen Tages Nachmittag, war der 1. August, begab er sich nach Scharzfeld. Es gefiel ihm, daselbst bis zum 14. gedachten Monats zu verharren, und zur Erfrischung bei seinen Mahlzeiten des kleinen Harzobstes sich zu bedienen, maßen während der Zeit von Andreasberg aus für 3 Thlr. 2 Ggr. Himbeere, Erd- und Heidelbeere, das Botenlohn dazu gerechnet, nach Scharzfeld geschicket werden mußten.“ Die Zerstörung der Burg fällt in den Siebenjährigen Krieg. Die Burg hat bis zu dieser Zeit fast immer eine Besatzung gehabt. Da das Felsennest militärisch vollkommen bedeutungslos war, bestand seine Besatzung im 18. Jahrhundert fast nur aus Invaliden. Diese genossen hier ihr Gnadenbrot. Sie beschäftigten sich mit Gartenbau, Spazierengehen, Bierbrauen — ihr Bier hatte einen guten Ruf und sonntags kamen viele Landleute aus der Umgegend, um seine Güte zu erproben — und versuchten dann und wann auf dem „Paradeplatz“ den altgewohnten Parademarsch. Nebenbei hatten sie die Gefangenen des Amtes Scharzfeld und einige Staatsgefangene zu bewachen. So sah es auf der alten Felsenburg aus, als nach der von den hannoverschen Truppen verlorenen Schlacht bei Hartenbeck am 27. September 1757 der französische Oberst Chevalier de Fischer mit einer zuchtlosen Truppe vor ihren Toren erschien. Der damalige Kommandant, Major Jürgens, ergab sich mit seinen wenigen Invaliden „auf Diskretion“. Eine französische Besatzung unter dem Chevalier de Cursoll blieb zurück. Als sich dann aber die Franzosen unter dem Prinzen Soubise nach der Schlacht bei Roßbach rückwärts konzentrierten, hielt es die Burgbesatzung für geraten, ihren Landsleuten zu folgen. In aller Stille verließ sie am 27. Februar 1758 die Burg, ohne sie im geringsten zu beschädigen. Wieder hielten hannoversche Invaliden ihren Einzug. 1761 besuchten die Franzosen die Burg zum zweitenmale. Diesmal war sie mit 250 Invaliden, 40 Artilleristen und 100 freiwilligen Harzschützen besetzt, die unter dem Kommando des Majors von Sack und des Hauptmanns von Issendorf standen. Unvermutet erschien plötzlich am 16. September der General Baubecourt von Nordhausen her mit 6000 Mann und verlangte die Uebergabe. Die beiden Kommandanten aber verweigerten diese im Vertrauen auf die natürliche Stärke des Platzes und die Tapferkeit der kleinen Besatzung. Die heranrückenden Franzosen wurden von einem derartigen Artilleriefeuer empfangen, daß sie sich gezwungen sahen, zu einer regelrechten Belagerung zu schreiten. Die Burg war mit ausgezeichneten eisernen Langrohrkanonen versehen. Im Süden und Südosten der Burg standen drei Batterien, außerdem war der Turm auf dem nordöstlichen Felsvorsprunge gut bestückt. Die Franzosen begannen mit den Schanzarbeiten, ihre Spuren sind am Bühberge noch heute zu erkennen — wobei ihnen die aus der ganzen Umgegend zusammengetriebenen Bauern helfen mußten, und schon nach wenigen Tagen wurde die Beschießung der Burg vom Bühberge aus begonnen. Sie war aber erfolglos, da die Entfernung etwa 400 Schritt zu groß war und der Standort der Batterien etwa 60 Meter niedriger lag als das Ziel. Die Verteidiger jedoch konnten ihre langen Eisenrohre mit großem Erfolg spielen lassen und in kurzer Zeit sogar einige feindliche Geschütze vernichten. Die Franzosen sahen bald das Erfolglose ihres Unternehmens ein und wären unverrichteter Dinge wieder abgezogen, wenn ihnen nicht — wie erzählt wird — ein Barbiser Bauer für schnöden Judaslohn einen Weg nach dem Liethberge gezeigt hätte, der 30 Meter höher ist und bedeutend näher an der Burg liegt. Die nun eiligst auf dem Liethberge und in dem nahen Wolfskuhlentale errichteten Batterien konnten die Felsenburg mit größerem Erfolge unter Feuer nehmen. Nach einer nicht verbürgten Nachricht sollen die Franzosen zunächst das „Fort“ Frauenstein, das zwischen dem Liethberge und der eigentlichen Burg gelegen haben soll, erobert haben. Auf Merians Kupferstich aus dem Jahre 1650 aber ist der Frauenstein als kahler Felsen dargestellt. Auf einer Karte von dem Schloß und seiner nächsten Umgebung aus dem Jahre 1756 ist er nicht mit verzeichnet, und auch heute lassen sich keine Spuren ehemaliger Befestigung feststellen. — Jedenfalls aber war die Kanonade der Franzosen von solcher Wirkung — im ganzen waren 136 Bomben und 426 andere Geschosse in die Burg geworfen worden —, daß sich die kleine, tapfere Besatzung nach zehntägiger, hartnäckiger Verteidigung und nachdem sich die Harzschützen glücklich in die Berge geschlagen hatten, gezwungen sah, zu kapitulieren. — Groß war die Freude der Sieger, und General Vaubecourt schickte stehenden Fußes einen Kurier ab, der der französischen Hauptstadt die Nachricht überbringen mußte, seiner Tapferkeit sei es gelungen, binnen wenigen Tagen eine der wichtigsten Festungen Deutschlands zu erobern, ihre Besatzung gefangen zu nehmen und eine unermeßliche Beute zu machen. Und in Paris illuminierte man voll Siegesfreude die Straßen, gab Freudenschüsse ab und sang in der Notre dame-Kirche ein feierliches Te deum. — Als sich aber die Sieger von der wirklichen Größe und dem wirklichen Werte ihrer Siegesdeute überzeugten, da war ihre Enttäuschung groß und ihre Wut kannte keine Grenzen. Unverrichteter Dinge mußten die vielen Hunderte von Bauern, die der französische Hauptmann Nero aus der ganzen Umgegend hatte zusammenholen lassen, damit sie mit ihren Gespannen die Beute fortschafften, mit leeren Wegen wieder nach Hause ziehen. Außer den erwähnten Kanonen und einigen alten Pulverkarren mit weniger Munition fand man nichts Nennenswertes auf der Burg. Um seiner grenzenlosen Wut Luft zu machen, ließ Nero Lauterberger Bergleute kommen, die die starken Mauern sprengen und die Gebäude verbrennen mußten. Selbst der Felsen sollte gesprengt werden. Daran wurde er durch Herannahen des Herzogs Ferdinand von Braunschweig mit seinem Heere gehindert. Die Franzosen zogen ganz plötzlich ab. — Der „Franzosengrund“ in der Nähe der Burg und die gelegentlich bei Erdarbeiten besonders häufig im Wolfskuhlentale gefundenen Kanonenkugeln erinnern noch heute an die Anwesenheit der Franzosen. Die Burg Scharzfels wurde seit jenen Schreckenstagen nicht wieder aufgebaut und schaut nun schon 166 Jahre lang als eine der malerischsten Burgruinen des Südharzrandes in die Lande. Stein um Stein ist von den Umwohnern im Laufe der Zeit als willkommenes Baumaterial fortgeschafft worden. Zwar hat man im Jahre 1857 ein neues Burgtor als östlichen Eingang und eine neue 35stufige Freitreppe als Verbindung zwischen Hoch- und Niederburg angelegt. Aber das Burgtor liegt schon wieder seit Jahren in Trümmern. Der Zahn der Zeit hat arg an den wenigen Resten der übrigen künstlichen Befestigungen genagt, und Frau Sage sitzt in allen Mauerspalten unter Moos und dichtem Gebüsch und erzählt dem verstehenden Besucher besonders in lauschigen Vollmondnächten ihre Geheimnisse. Eine der schönsten Sagen von der Burg sei hier wiedergegeben: Im 11. Jahrhundert war die Burg Scharzfels im Besitze des Ritters Albrecht von der Helden, der zugleich vom Kaiser Heinrich IV. mit der Aufsicht über den Bergbau des Harzes beauftragt war. Diesem Ritter von der Helden ging die Burg auf folgende tragische Weise verloren: Kaiser Heinrich IV. war bekanntlich ein Mann, der infolge schlechter Erziehung nicht gelernt hatte, seine Wünsche und Begierden zu zügeln,. Dieses galt besonders inbezug auf schöne Frauen. Wenn der Kaiser einer solchen ansichtig wurde, so stand sein Herz sehr bald in hellen Flammen. Das sollte auch die schöne junge Frau des Ritters von der Helden erfahren, die er einst bei einem Hoffest in seiner Residenz Goslar kennen lernte. Um sich ihr zu Nähern, benutzte er ein Mittel, das schon König David bei Urias, dem Gemahl der schönen Bethseba, anwendete. Er gab dem Ritter Albrecht einen Auftrag, der ihn weit von seiner Burg entfernte. Während dieser Zeit gab sich Heinrich dem edlen Weidwerke hin und hielt sich dabei oft in der Nähe des Scharzfels auf. Eines Tages fügte es sich, so, daß ihn in unmittelbarer Nähe der Burg ein Gewitter überfiel. Unter diesen Umständen war es wohl selbstverständlich, daß er auf der nahen Burg Schutz suchte Als er nun im Gespräch mit der schönen, einsamen Burgfrau merken ließ, daß er auch während der Nacht gern auf der Burg bleiben würde, konnte sie nicht anders, als diese besondere kaiserliche Gnade anzunehmen und den hohen Gast zu beherbergen. Heinrich benutzte diese Gelegenheit, um seinen ehebrecherischen Gelüsten in schändlichster Weise zu fröhnen. Seines Erfolges froh, ritt er am andern Tage unbekümmert seine Straße. Außer einem Mönche aus dem nahen Kloster Pöhlde, der dem Kaiser bei der Ausübung dieses Bubenstückes, behilflich gewesen war, wußte kein Mensch davon. Nach menschlichem Ermessen mußte es also geheim bleiben. Aber es kam doch an den Tag und zwar durch den Burggeist. Ihn hatte bis jetzt noch kein Mensch ernst genommen, trotzdem er schon lange sein Wesen auf der Burg getrieben hatte. Er spukte in der Küche, im Keller und besonders in dem „Runden Turm“, dessen Grundmauern noch vor wenigen Jahrzehnten zu sehen waren. Aber kein Mensch fürchtete den Geist, er gehörte gewissermaßen mit zum Inventar der Burg. Nach der Untat des Kaisers aber erhob der Geist ein so fürchterliches Geheul, wie man es noch nie gehört hatte und erschütterte durch sein Toben die Burg in ihren Grundfesten. Die arme Schloßherrin, die sich die bittersten Vorwürfe machte, irrte mit bleichem Antlitz und verweinten Augen in der Burg umher, und die Dienstleute schlugen vor Angst ein Kreuz nach dem andern und erwarteten mit klapperndem Gebein das Ende der Burg. Aber dem Burggeist lag nichts ferner als unschuldige Menschen zu strafen; er bereitete nur seinen Auszug vor. Es war seines Bleibens nicht mehr da, wo selbst der Kaiser Tugend und Unschuld mit Füßen getreten hatte. Mit furchtbarem Getöse fuhr er in dem „Runden Turme“ hinaus, warf dessen Dach krachend in die Tiefe, schwebte lange über dem Dorfe Scharzfeld und schrie laut über die ganze Gegend, welche Untat der Kaiser mit Hülfe des Pöhlder Pfaffen verübt hatte. Von dieser Zeit an hielt kein Dach mehr auf dem „Runden Turme“. Tatsächlich zeigen alle vorhandenen Bilder von der Burg den „Runden Turm“ ohne Dach. So oft man es aufsetzte, warf es der Burggeist in die Tiefe. Der Pfaffe ging seitdem mit verstörtem Gesicht umher und die Verzweifelung packte ihn schließlich so, daß er sich unweit der Burg Scharzfeld aufhängte. Noch heute nennt man diese Stelle die „Schandenburg“. Nach einiger Zeit kam der Burgherr nach Erledigung des kaiserlichen Auftrages auf die Burg zurück. Als er seine schöne Gattin, die er weinend und traurig fand, nach der Ursache ihres Schmerzes fragte, erzählte sie ihm alles, was geschehen war. Voll Wut über die seiner Frau und ihm angetanene Schmach ritt er spornstreichs wieder nach Goslar, das er erst vor wenigen Tagen verlassen hatte, um blutige Rache an dem Kaiser zu nehmen. Der Kaiser aber ahnte sein Vorhaben und ließ den gekränkten Ritter garnicht vor sich kommen. Um vor ihm in Zukunft sicher zu sein, hatte der Kaiser einen Menschen gedungen, der Albrecht von der Helden unauffällig verschwinden lassen sollte. Das hatte dieser aber erfahren und war auf dem kürzesten Wege wieder zum Scharzfels geeilt. Er rächte sich dadurch an dem Kaiser, daß er die Harzer Bergleute zum Aufstand reizte und mit ihnen den Harz verließ. Wo er geblieben ist, weiß kein Chronikenschreiber zu berichten. Der Harzer Bergbau, der damals in hoher Blüte gestanden hatte, geriet in gänzlichen Verfall. Der Kaiser belehnte nun den Ritter Wittekind von Wolfenbüttel mit der Burg Scharzfeld. |