E. ANDING

Im Wandel der Zeiten

„Fossile Knochen“

„Fossile Knochen“ stand als Inhaltsangabe der Kiste auf dem Frachtbrief, die wir auf dem Bahnhof in Osterode in Empfang nahmen. Sie kam vom Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung in Hannover. Zwei Monate zuvor waren 11 kg ungereinigte Knochen dorthin abgesandt worden. Nun konnten wir sie sauber und gut konserviert herausnehmen. Sie waren bestimmt worden als: 1 mächtiger Oberschenkelknochen von 50 cm Länge, verhältnismäßig gut erhalten, 1 Schulterblatt, 1 Teil des Beckens, 2 Fußwurzelknochen, einige Schädelfragmente und sonstige kleinere Knochenstücke. Am 8.11.1967 waren sie bei Ausschachtungsarbeiten auf dem Grundstück der Firma Lohrengel in Wulften in 8 m Tiefe gefunden worden. Ihre Lagerstätte erstreckte sich auf 4 bis 5 m Länge, was ungefähr der Größe des Tieres entspricht. Da Knochen von allen Körperteilen vertreten sind, ist anzunehmen, daß es an Ort und Stelle einen natürlichen Tod gefunden hat. Um etwaigen genaueren Untersuchungen durch Fachleute nicht vorzugreifen, wurden nur aus den durch die Bauarbeiten unmittelbar gefährdeten Stellen die restlichen Knochen entnommen, die in recht morschem Zustande waren.

Bei jedem derartigen Fund werden immer wieder zwei Fragen gestellt: von welchem Tier stammen die Knochen, wie alt sind sie? Die erste Frage konnte Prof. Dr. Sickenberg eindeutig beantworten: vom Wollhaarnashorn (Coelodonta antiquitatis). Neben Mammut und Wisent zählte es zu den Großsäugern der eiszeitlichen Kaltsteppe, einer Gegend jenseits der Baumgrenze, wie sie heute noch in den nördlichsten Teilen Europas besteht. Es scheint nach den häufigen Funden von Überresten in den Gipsbrüchen der Umgebung, meist Zähnen, bei uns nicht selten gewesen zu sein. Neben prähistorischen Höhlenzeichnungen in Frankreich kennt man fast vollständige Skelette und sogar ganze Tierkörper aus dem Dauerfrostboden Sibiriens. Nach der Beschreibung von H. D. Kahlke1) trug der massige Körper eine lange, dichte, rotbraune Behaarung. Hohe Dornfortsätze der Rückenwirbel über dem Schultergürtel boten nicht nur Ansatzflächen für starke Muskeln, sondern ebenso für einen Fettbuckel, der eisernen Ration für magere Zeiten.

Die konservierten Knochen.

Auf dem mächtigen Kopfe saßen 2 Hörner hintereinander, von denen das lange vordere eine furchtbare Waffe war, und der immer drohend zum Angriff gesenkte Kopf wird durch diesen Anblick manchem Angreifer den Appetit verdorben haben. Da die Hörner aber keine Knochenzapfen wie bei richtigen Horntieren einschlossen, waren sie leicht vergänglich und sind nur bei besonders günstiger Lagerung erhalten geblieben. — Die Antwort auf die zweite Frage war unbestimmt: vermutlich weichsel(würm)- eiszeitlich. Diese vorsichtige Formulierung schließt die Möglichkeit eines höheren Alters nicht aus. Zum Verständnis dafür muß gesagt werden, daß Prof. Dr. Sickenberg die Fundstelle wegen Zeitmangel nicht aufsuchen konnte. Ein weiterer Grund liegt darin, daß sich das Vorkommen dieser Tiere in Mitteleuropa auf die beiden letzten Kalkzeiten (Riß und Würm), aber mit Unterbrechung durch das letzte Interglazial (Zwischeneiszeit) erstreckt, also auf einen Zeitraum von über 200 000 Jahren. Nach Kahlke nimmt man an, daß diese Tierart in der frühen Eiszeit aus seiner ursprünglichen Heimat in Südasien nach Norden und Nordwesten vorgestoßen ist und sich unter steigender Kälteanpassung langsam zur ausgesprochenen Kaltform entwickelt hat. Es ist dann in seiner uns bekannten Art mit Beginn der Saale(Riß)-Eiszeit erstmalig bei uns nachweisbar, folgte an derem Ende dem zurück weichenden Eise nach Norden und zog mit der Weichsel(Würm)-Eiszeit wieder bei uns ein. Als nach derem Ende das Klima wieder wärmer wurde, wanderte es auf der Suche nach ihm zusagenden Lebensbedingungen wieder nach Norden und ist wahrscheinlich in seinen letzten Resten in Sibirien ausgestorben. In seinem zweimaligen, durch einen langen Zeitraum unterbrochenen Auftreten bei uns liegt der Grund für die Unsicherheit in der Altersbestimmung. Sie hätte vielleicht bei einer eingehenden Untersuchung der Fundstelle durch einen Fachgeologen behoben werden können. Leider waren Bemühungen nach dieser Richtung erfolglos.

Schematische Darstellung der Schichten im Profil der Nordwand.

Die Möglichkeit dazu lag in dem 8 m hohen Profil der Nordwand in der Ausschachtungsgrube. Durch diesen tiefen Einschnitt in den Berghang wurde eine recht interessante Schichtung freiglegt. In seiner klaren Gliederung war das Profil auch sehr aufschlußreich. Von oben zeigte es unter der Humuserde 1,5 m steinfreien, lehmigen Boden. Ohne Zweifel handelte es sich dabei um Löß, einen in einer Kalkzeit von eisigen Nordstürmen angewehten Staub, wie er an sehr vielen Stellen unserer Heimat z. T. in mächtigen Lagen vorkommt. In der darunter folgenden dunkelroten, tonigen Schicht von 1,5 m Höhe, die gleichmäßig mit kleineren Buntsandsteingeröllen durchmischt war, erkannte man Fließerde, die als Verwitterungsschicht des Buntsandstein bei oberflächlichem Auftauen auf der noch gefrorenen Unterlage langsam hangabwärts geglitten war. 1,5 bis 2 m dick lag darunter wieder der gelbe, steinfreie Lößboden, dessen unterer Teil von einigen rötlichen Streifen durchzogen war. Er lagerte auf einer 3 m hohen, rotbraunen Tonschicht. Die ganz wenigen kleinen, ortsfremden Steinchen mit abgeschliffenen Kanten in ihr kennzeichneten sie als Ablagerung eines wenig bewegten Wassers, das zeitweise mit einem Fluß in Verbindung gestanden haben mußte. Ihr Untergrund war festerer, rotbrauner Boden, der beim Abstechen leicht schiefrig auseinander fiel. Auf ihm lagen die Knochen des Nashorns. (Die für die einzelnen Schichten angegebenen Maße sind geschätzt. Da ihre Grenzen beim Abbaggern verwischt wurden, hätte man für eine genaue Messung einen Teil der Wand von oben bis unten säubern müssen).

Um sich über den Aussagewert der Schichtenfolge klar zu werden, ist es notwendig, sie in das allgemeine geologische Bild der Gegend einzuordnen. Ein Blick von den Harzrandbergen in der Richtung nach Göttingen zeigt uns ein sehr bewegtes Landschaftsbild. Höhenzug baut sich hinter Höhenzug in reizvollem Wechsel auf. Man spricht von einer Stufenlandschaft. Nach der geologischen Karte würden wir aus dem Zechsteingebiet am Sösetal bei Osterode über unteren, mittleren und oberen Buntsandstein zum unteren, mittleren und oberen Muschelkalk des Göttinger Waldes gelangen. Bei waagerechter Lagerung der Schichten müßten sie sich zu regelrechten Gebirgen auftürmen. Aber ihre Anhebung am Harzrande bei der letzten Gebirgsbildung bei gleichzeitigem Absinken nach Süden zum Thüringer Becken hin hielt sie ungefährt in gleicher Höhe. Nur tritt jede neue Formation an ihrem Nordrande als Steilstufe in Erscheinung. Das Berggebiet nordwestlich von Wulften gehört als ein durch Söse und Oder abgetrenntes Stück zur großen Platte des mittleren Buntsandsteins, die sich unter Einschluß des Westerhöfer Waldes bis weit in das Eichsfeld erstreckt. Am Ortsrand von Wulften haben wir nun vermutlich ihre untersten Lagen, die nach der geologischen Karte aus Bröckelschiefer und Tonen aufgebaut sind. Die oberen, festen Bänke treten erst in der Gegend von Waake als Bausandstein auf. Der Wulften gegenüber beginnende Rotenberg gehört den oberen, etwas festeren Schichten des unteren Buntsandsteins an. So erklärt sich sein Steilhang zum Odertal. In der dazwischen liegenden breiten Talmulde ist das weichere Material von dem früher schon bei Herzberg vereinigten Wasser der Oder und Sieber ausgeräumt, der Rest aber später in der Eiszeit wieder mit Schottern überdeckt worden. Beide Flüsse müssen zeitweise sehr starke Wassermassen geführt haben, da sie einen erheblichen Teil des niederschlagreichsten Hochharzgebietes entwässern. Aus heutigen Erfahrungen wissen wir, daß sie manchmal zu gefährlichen Riesen anwachsen können. Im Verlaufe des wiederholten Klimawechsels zwischen Kalt- und Warmzeiten der Eiszeit, der zu verstärkten Niederschlägen führte, müssen die Auswirkungen viel bedeutender gewesen sein. Eine Vorstellung von der Gewalt dieser Wassermassen geben noch die Kieslager im unteren Teil des Odertales. Ihre Anschwemmung zwang den Fluß zu einer häufigen Änderung seines Bettes. Ohne die regulierend eingreifende Hand des Menschen beherrschte und versumpfte er in der Eiszeit die Niederung in ihrer ganzen Breite, zahlreiche tote Wasserarme hinterlassend. Einen solchen haben wir sicher auch in der Fundstelle vor uns. Er füllte sich nur in Hochwasserzeiten mit dem schmutzig-trüben Wasser, das dann in der Ruhe den tonigen Schlamm absetzte. So wuchs in langer Zeit seine Höhe auf 3 m an, verstärkt durch Abschwemmen feiner Verwitterungserde auch vom Berghang. Aber die vereinzelten ortsfremden Steinchen mit den abgeschliffenen Kanten lassen deutlich die Beteiligung des Flusses an dieser Schichtbildung erkennen. Dieser Vorgang kann sich nur in einer langen Warmzeit mit reichen Niederschlägen vollzogen haben. Die Übergangszone zur darüberliegenden unteren Lößschicht läßt deutlich auch eine klimatische Übergangsperiode erkennen. Mehrmals wechseln dünne Löß- mit tonigen, rötlich-gelben Schlammbändern. Kurze Kälte- und Wärmevorstöße lösten sich in rascher Folge ab, bis endlich der Frost die Oberhand behielt und die Gegend hoch mit Löß bedeckt wurde. Nach einer langen Zeitspanne brachte eine Temperaturschwankung am höher gelegenen lößfreien Hang den aufgetauten Verwitterungsboden als Fließerde in Bewegung und überrollte den am Fuße liegenden Löß. Aber wieder erstarrte alles, und neue Lößstürme breiteten ihren gelben Mantel darüber.

So wird die wechselnde Schichtenfolge des Wandprofils zu einem Klima- und Zeitanzeiger für die jüngste Entwicklungsphase der Erdoberfläche. Versuchen wir nun eine zeitliche Einordnung nach dem heute geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die obenauf liegende Humusschicht ist natürlich nach dem Ende der Eiszeit entstanden. Sie enthält die verrotteten Pflanzenreste der Nacheiszeit. Beide Lößschichten — sie waren zunächst das große Rätsel — sind in die letzte Kaltperiode, also die Weichsel(Würm)-Eiszeit zu setzen. Grahmann2) schreibt über die Lößbildung: „Ziemlich häufig läßt sich ein sogenannter „älterer Löß“ der Rißeiszeit deutlich von 2 „jüngeren Lößen“ unterscheiden, die Würm I und Würm II entsprechen.“ (In der beigefügten schematischen Darstellung der Schichtenfolge sind sie dem Alter entsprechend als Löß I und II bezeichnet worden.) Die eingeschobene Fließerde zeigt eine von der Wissenschaft vermutete Wärmeschwankung als kurzfristige Milderung der Kälte an. Der Bildung von Löß I aber muß eine lange Warmzeit vorausgegangen sein, die nur dem letzten Interglazial entsprochen haben kann, in dem hohe Flußablagerungen und Abschwemmungen vom Hang möglich waren. Wenn wir nun auf derem Grunde die Überreste eines kaltzeitlichen Tieres finden, wären wir damit ziemlich sicher an das Ende der vorletzten Kaltzeit, der Saale(Riß)-Eiszeit, herangekommen. Wir müssen also für die Knochen ein Mindestalter von 180 000 Jahren annehmen. Das „vermutlich“ von Prof. Dr. S. läßt diese Möglichkeit offen. Somit wären diese Knochen trotz des häufigeren Vorkommens der Gattung Wollhaarnashorn doch eine Besonderheit. Sie würden in ihrem Alter die meisten derartigen Funde in unserer Gegend übertreffen. — Die Knochen wurden der Gemeinde Wulften übergeben.

Benutzte Literatur:
1) H. D. Kahlke: Großsäugetiere im Eiszeitalter, Urania-Verlag, Leipzig/Jena.
2) R. Grahmann: Urgeschichte der Menschheit, W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 1952.

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