Petra & Michael Brust Von den namhaften Höhlen und Erdfällen im Zechsteingürtel des Südharzes gehört die Kelle zweifelsohne zu den bekanntesten. Sie liegt etwa 2 km nördlich von Woffleben (Landkreis Nordhausen) in einem bewaldeten, kleinräumig strukturierten Karstgebiet mit zahlreichen weiteren Erdfällen. Die Kelle genießt Schutz als Flächennaturdenkmal. Befestigte Wege sowie Treppen erleichtern den Besuch, und eine Erläuterungstafel weist auf die örtlichen Besonderheiten hin. Erste Erwähnung 1588 Die "Sylva Hercynia" des JOHANNES THAL (1542-1583) erschien posthum 1588 in Frankfurt am Main. Anläßlich des 400. Jahrestages der Fertigstellung des Manuskriptes dazu erschien in kleiner Auflage ein fotomechanischer Neudruck der Originalausgabe, ergänzt durch eine Übersetzung des lateinischen Textes, einen Kommentar und ein Register.2) Auf Seite 105 f. des Originals wird für die Tollkirsche (Atropa bella-donna L.) als Vorkommen u.a. der "Eingang der unterirdischen, wassergefüllten Grotte bei Bischofferode nicht weit von IIfeld, die man dort 'die newe Kelben' nennt' angegeben".3) Bei den von THAL konkret erwähnten etwa 60 Fundorten für Pflanzen handelt es sich zumeist um allgemeine ("in kalten Quellbächen verbreitet") oder relativ weit gefaßte Ortsangaben ("auf Wiesen um Stolberg"). In einigen Fällen hingegen sind die Fundorte genau bezeichnet ("auf dem sehr hohen Hertzberg bei Ilfeld"). Dazu gehört auch die Angabe zur Kelle, bei der es sich zugleich um die älteste Erwähnung dieser Höhle in der Literatur überhaupt handelt. Sie zählt damit generell zu den wenigen, bereits im 16. Jahrhundert namentlich genannten Höhlen des Harzes. |
Mythologie und Religion Durch die Ausgrabungen, die das Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens unter Leitung von Prof. BEHM-BLANCKE 1951 bis 1957 in den Höhlen bei Bad Frankenhausen durchgeführt hatte, gilt deren kultische Nutzung seit spätestens der frühen Bronzezeit als gesichert. Das Höhlenheiligtum am Kyffhäuser hatte wohl in gewisser Hinsicht zentrale Bedeutung für die Bevölkerung eines größeren Landschaftsraumes, doch schließt das eine Nutzung anderer Höhlen im südlichen Harzvorland als Kultstätten keineswegs aus. Auch für die Kelle läßt sich bei aller gebotenen Zurückhaltung vermuten, daß sie als Ort kultischer Handlungen diente. Obwohl archäologische Belege fehlen, bietet die Kirchengeschichte dazu Anhaltspunkte, die eine solche Annahme rechtfertigen könnte. Im Zuge der Christianisierung wurden an der Stelle heidnischer Kultstätten häufig christliche Altäre oder Gotteshäuser errichtet. Sagen Aus dem reichen Sagenkranz, der sich um die Kelle rankt, sollen exemplarisch nur zwei genannt werden. Dichtung Am Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr die Kelle eine Blütezeit romantischer Verehrung. Als 1770 die preußische Kriegs- und Domänenkammer in Ellrich eingerichtet wurde, kam der Dichter LEOPOLD FRIEDRICH GÜNTHER GOECKINGK (1748-1824) als Kanzleidirektor in die Stadt und verbrachte seit 1779 mit seiner Familie die Sommermonate im sogenannten Neuen Haus unweit der Kelle.10)
Fazit Die Kelle als ein Geotop von besonderer landschaftlicher Schönheit und seltener Eigenart im Gipskarst des Südharzer Zechsteingürtels manifestiert über 400 Jahre Kulturgeschichte allein in der schriftlichen Überlieferung, wobei darüber hinaus prähistorische Komponenten nicht unwahrscheinlich sind. Im weiteren Sinne wird damit deutlich, daß Geotope als markante Landschaftsbestandteile nicht nur die soziokulturelle Identität der örtlichen Bevölkerung prägen, sondern z.B. in literatur- oder wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht auch weit über den Rahmen des Naturschutzes hinaus eine herausragende Bedeutung erlangen können.
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