Die Alte Burg zu Osterode: Herausragendes Beispiel einer verlorenen BautraditionHolger Kulke unter Verwendung von Daten von Martina Weichmann und von zwei Zeichnungen von Hans-Jürgen Boyke Kurzfassung: Der erhalten gebliebene Halbzylinder vom Wohnturm der Alten Burg zu Osterode entstammt der romanischen Periode. Mit seinen Ausmaßen (Durchmesser an Basis: 14,5 m, Höhe z.Zt. etwa 34,5 m) gehört er zu den größten Bergfrieden Mitteleuropas. Er wurde aus großen Geröllen errichtet, die durch einen grobstückigen Gipsbeton zusammengehalten werden. Die hohe bautechnische Qualität dieses lokaltypischen historischen Baustoffs hat die Ruine bis heute überdauern lassen. Der Baukörper wird durch Alterungs- und Verwitterungsprozesse in zunehmendem Maße gefährdet. Es stürzen häufig kleinere Teile der oberen Turmbereiche herab, gelegentlich lösen sich Blöcke aus den beidseitigen Verblendschalen. Tiefe Risse durchziehen die oberen Bereiche des Mauerwerks, daher werden Abstürze größerer Massen immer wahrscheinlicher. Die Ruine muß dringend baldigst gesichert und zugleich so saniert und restauriert werden, daß die Identität dieses Monuments optimal erhalten bleibt. Als Restaurierungsmörtel wird nachgemischter Gipsmörtel, dessen Rezeptur sich z. Zt. in der Probephase befindet, aus bautechnischen Gründen, sowie zur Wahrung der Materialidentität empfohlen. Zur Nachnutzung nach erfolgter Sicherung und Restaurierung wird der Einbau eines Aussichtsturms in den Turm-Innenraum zur Diskussion gestellt. Einleitung Osterode besitzt mit den Resten der Alten Burg ein ungewöhnliches Bauwerk: - Die Baumaße stellen die Reste des Wohnturms in die Gruppe der größten Bergfriede Mitteleuropas.
- Die Baumaterialien, große glatte Geröllsteine und ein ungewöhnlich fester, über die Jahrhunderte in seinen Eigenschaften wenig veränderter Gipsmörtel bzw. Gipsbeton 1 , sind zwar typisch für die örtliche historische Bauweise, Geröllbauten und Gipsbeton kommen aber außerhalb des Südharzes nur äußerst selten vor. Weiterhin ist in keinem anderen größeren Bauwerk der Region diese Bauweise so gut erkennbar.
- Über die Geschichte der Burg ist ungewöhnlich wenig bekannt; dies gilt sowohl für die Erbauung, die größte Zeit der Nutzung als auch für die Zerstörung der Anlage.
- Trotz ihrer Bedeutung für die frühe Stadtentwicklung und ihrer Nähe zum Stadtzentrum ist über dieses Bauwerk offensichtlich wenig geforscht worden.
Die Faszination, die von der Eigenart dieser Ruine ausgeht und ihre hohe Gefährdung führten den Autor schon vor mehreren Jahren zur Beschäftigung mit der Alten Burg. Dieser Artikel über sie wurde von einem Nicht-Osteroder verfaßt. Es mag daher sein, daß diese Ausführungen einige Quellen oder Überlieferungen unberücksichtigt lassen, da sie dem Schreiber nicht zur Verfügung standen. Für weitergehende geschichtliche oder sachkundliche Informationen wären Frau Dipl. Geol. M. Weichmann, die den Hauptteil der materialkundlichen Untersuchungen am Gipsbeton durchführte, sowie der Autor sehr dankbar.Für geschichtsbewußte Menschen ist es sicher nicht nur eine wichtige Aufgabe, an Archivalien und anderen Objekten zu forschen, sondern sich auch dafür einzusetzen, daß von den auf uns überkommenen materiellen Dingen möglichst viel, auch über die kommenden Generationen hinweg, weitergereicht wird. Leider ist gerade im baulichen Bereich, der unsere kulturelle Umwelt bewußt und unbewußt wesentlich gestaltet, trotz vieler Anstrengungen in der Nachkriegszeit in Deutschland viel an historischer Substanz verloren gegangen. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Modernisierungssucht - also Versuch der Anpassung an den Zeitgeschmack - öffentlicher und privater Verantwortlicher, Grundstücksspekulation, Straßenbau, Vernachlässigung bis hin zur Abrißreife, oft rüde Umbaumaßnahmen zur Anpassung an zeitgemäße technische Standards (z. B. Wärmeschutzverordnung) oder wegen Umnutzung, Unkenntnis, altersmäßig bedingter, natürlicher oder durch menschliche Einflüsse verstärkter Verfall und leider auch manchmal Restaurierungsmaßnahmen, die nur das äußere Erscheinungsbild, nicht aber auch die maximale materialmäßige Identitätswahrung zum Ziel hatten. Mit letztgenannten Schädigungen sind nicht nur Abriß- und Wiederaufbaumaßnahmen an historischen Gebäuden gemeint, sondern auch die Verwendung ungeeigneter neuer Materialien. Dramatische Schäden verursachten hier besonders Zementinjektionen in gipsgemörtelte Bauten; die Kirchen von Zorge und von Hanstedt I, (beim Kloster Ebsdorf in der Lüneburger Heide) mußten bzw. müssen wegen dieser "Sanierungs"- Maßnahmen teilweise abgetragen werden, da sich im Kontaktbereich zwischen verpreßtem Zement und altem Gipsmörtel die gefürchteten Treibminerale (bes. Ettringit) bildeten. Möge es den Verantwortlichen in Osterode gelingen, derartige Fehler, soweit wie irgend möglich, zu vermeiden. Ihre schöne Stadt weist ja ein hervorragendes Objekt einer geglückten Restaurierung und Neunutzung auf: das gewaltige Harzkornmagazin, ihr schönes heutiges Rathaus. Die Leistung jener, die diese schwierige Aufgabe trotz mannigfacher Widerstände vollbrachten, zuvorderst jene von Herrn Dipl.-lng. G. Kudlek, ist vorbildlich. Dieser Beitrag wurde nur dadurch möglich, daß die Stadtverwaltung Osterode unserer kleinen Clausthaler Arbeitsgruppe "Historische Baustoffe" im Sommer 1994 den Auftrag erteilte, den historischen Gipsbeton der Alten Burg zu analysieren und Vorschläge zu einem geeigneten Restaurierungsmörtel zu machen (KULKE & WEICHMANN, 1994). Den Zuständigen sei auch an dieser Stelle für die sehr gute Zusammenarbeit gedankt. Es war weiterhin diesem Text, hoffentlich auch der anstehenden Restaurierung des Objektes, förderlich, daß der Autor am 9. Februar 1995 im Ratssaal vor einem großen Kreis interessierter und engagierter Hörer zu diesem Thema unter obigem Titel reden durfte. Eine Vitrine im "Ritterhaus" mit einigen baugeschichtlichen und bautechnischen Materialien soll Museumsbesucher seit dem Frühling 1995 gezielt auf die Alte Burg und ihre Probleme hinweisen. Zur Geschichte des Bauwerks und zu seinem Verfall in vergangenen Jahrhunderten Die Ursprünge der Alten Burg liegen im Dunkeln. Es könnte durchaus darüber spekuliert werden, ob der Bau der Burg mit den entsetzlich zerstörerischen Ungarneinfällen zusammenhängt. Diese Raubzüge erreichten in der Zeit nach 900 unsere Gegend. 926 wurde z. B. die Pfalz Werla während eines Waffenstillstandes mit den Ungarn erbaut bzw. ausgebaut (pers. Info H.-J. Boyke, Clausthal Zellerfeld). Der Beitrag von Frau PISCHKE (1993) im dicken Buch über Osterode nennt einige zusammenfassende Daten. Diese und einige ergänzende Quellen dienten dazu, die Tabelle 1 zusammenzustellen. Es ist immer wieder darüber spekuliert worden, wie und wann die Burg zur Ruine wurde. Hier sei eine, wahrscheinlich neue, Variante vorgestellt: die Burg ist (?vor) 1512 nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit sondern auch oder besonders aufgrund auftauchender gravierender Schäden verlassen worden. Der vergleichsweise nur mittelmäßig stabile Baugrund (sandig-tonige Grobkiese, siehe: Der geologische Untergrund), möglicherweise geschwächt durch Kellerbauten südlich des Turmkolosses, führten damals vermutlich zum leichten Absinken der südlichen Turmhälfte, die sich folglich langsam stadtwärts neigte und schließlich - zumindest teilweise - einstürzte. Dieses postulierte dramatische Ereignis dürfte vor dem so verheerenden Stadtbrand von 1545 erfolgt sein, damit gingen auch die Berichte über diese Zerstörung verloren. Diese Hypothese wird übrigens durch den tiefen Riß in der Nordwestseite der Ruine und die leichte Neigung nach außen des niedrigen westlichen Segments (s. Tab. 3) gestützt.
Tab. 1: Geschichtliche Grunddaten zur Alten Burg Geschichte: | 1153 erstmalige Nennung (Osterrodense castrum et Hircesberg) Lehensträger anfangs - bis 1106 - die Grafen von Katlenburg | 1106 | bis zum Verfall: welfischer Besitz (z. B. Heinrich der Löwe, 1202: Otto IV, 1402: an Braunschweig-Grubenhagen) | 1485 | /86: nach dem Tod von Herzog Albrecht II verlagert sein Sohn Philipp I (regiert 1494-1510 bzw. 1526) den Verwaltungssitz nach Herzberg; die verfallende Burg wird Witwensitz seiner Mutter, der Herzogin Elisabeth | 1512: | Burg ist verlassen | 1504- | 1512 ff: Bau des Barfüßerklosters in Johannis-Vorstadt, Stadt muß Baumaterial stellen | 1545: | Stadtbrand in Osterode vernichtet alle Dokumente | 1551: | nicht mehr in Liste der grubenhagenschen Schlösser | 1558- | 1561: Herzog Ernst II baut ehem. Nonnenkloster in der Osteroder Neustadt zu Amtssitz und Schloß um | 1639: | Zeichnung in Chronik von H. Wendt zeigt Burg als Ruine | 1654: | auf Stich von Merian: Ruine, neben gespaltenem Halbzylinder des Bergfriedes Wände von Nebengebäuden | 19. | und 20. Jh.: Stiche (L. Richter: in W. Blumenhagen ca. 1850 Hornemann: in L. Rohbock, 1860) und Fotografien (1871, 1905, 1908 usw.) zeigen andauernden Verfall. | Grabungen: | 1843: Fund des Siegels der Herzogin Agnes, 1862: Umfassungsmauer teilw. freigelegt, weitere Grabungsfunde durch Dr. Fenker, 1876-77, weitere Grabungen Anfang des 20 Jh. |
Quellen: K. Gehmlich (Blätter OKA f. Heimatpflege....6.3.1993); G. Pischke (1993): Osterode...., S. 25, 129, 144; F. Stolberg (l968): Befestigungsanlagen ..... S. 281f.
Allem Anschein nach - offenbar aber ohne konkrete Beweise - hat es im Turm irgendwann stark gebrannt. Die feueranzeigende Rötung im unteren Turmrund weist daraufhin. Vielleicht ist der Brand (geringfügig?) älter als das Verschwinden der Südhälfte des Turmes. Ziemlich sicher aber ist selbst ein großes Schadfeuer kein hinreichender Grund für eine Zerstörung dieser massiven Turmstruktur. Erst recht könnte man so nicht erklären, warum eine Seite zerstört, die andere aber kaum beeinflußt wurde. Auch die Nutzung des noch stehenden, gewaltigen Recken als "Steinbruch" erscheint unhaltbar. Dies ist besonders in der sehr gefährlichen Abbruchtechnik einer so hohen Wand begründet. Weiterhin wäre es kaum zu erklären, warum man in einem solchen Fall eine Hälfte stehen ließ. Hingegen kann es durchaus als sicher gelten, daß die Ruine der Burg, besonders die gewaltige Masse von etwa 4.000 t des südlichen Halbzylinders nach seinem abgeleiteten Einsturz, den Bürgern der Stadt sowie den Grubenhagener Herzögen als sehr günstiges Baumateriallager diente. Da in vergangenen Jahrhunderten alter Gipsmörtel von Vorgängerbauten gerne als grobstückiger Zuschlag dem Gipsbeton für ein neues Bauvorhaben beigemengt wurde, lassen sich möglicherweise in Bauten des 16. Jh. in der Stadt (z. B. in den Resten des Barfüßerklosters oder dem Osteroder Schloß) Stücke dieses recht leicht erkennbaren Burgmörtels fanden. In den Kellergewölben von Schloß Herzberg konnten wir z.T. nachweisen, daß beim Wiederaufbau des Schlosses nach dem großen Brand von 1510 romanischer Gipsbeton dem viel feinkörnigeren Neubau-Mörtel zugefügt wurde. Radiometrische 14C-Datierungen an eingeschlossener Holzkohle durch das Labor von Dr. Geyh, Niedersächs. Landesamt für Bodenforschung, Hannover, belegen diese ursprünglich nur im Mörtelgefüge begründete Aussage. Auch die Geröllsteine waren bis in unser Jahrhundert hinein ein wichtiges lokales Baumaterial. Sie wurden daher wohl bis vor wenigen Jahrzehnten vom Burghügel gefahren, sobald wieder Mauerwerksteile abgestürzt waren. Von den anderen Gebäuden der Alten Burg, vermutlich Wirtschafts- und Wohnbauten, sind heute fast nur noch die Grundmauern südlich des Bergfriedes erhalten. Merian's Stich von 1654 (Abb. 1) deutet vor der Turmruine noch aufgehendes Mauerwerk mit Fensteröffnungen an. Die dicke, einige Meter hoch erhaltene Mauer unmittelbar nordöstlich vom Turm kann als Schildmauer auf der schlechter zu verteidigenden Burgseite verstanden werden. Die bisherigen Grabungen im Burgareal (siehe Tab. 1) wurden offenbar aus heutiger Sicht ziemlich unsystematisch und nicht mit baugeschichtlichen und erst recht nicht geotechnischen Fragestellungen durchgeführt. Leider wurde am 1.6.1995 vom Landkreis Osterode ein Antrag auf Genehmigung und Durchführung eines geotechnischen und archäologischen Schurfs, der radial durch den Fundamentbereich der eingestürzten Turmhälfte geführt werden sollte, abgelehnt. | Abb. 1: Ausschnitt auf dem Stich von Merian von 1654/1961. Man erkennt Wände von Nebengebäuden seitlich neben dem gespaltenen Bergfried (Quelle: M. MERIAN 1654/1961: Stich Osterode). |
Diese Grabung hätte nicht nur Aufschluß über die Art und Beschaffenheit des Baugrundes und die romanische Fundamentierung liefern können, sondern wahrscheinlich auch die Baugeschichte erhellt sowie die Ursachen der Zerstörung des Bergfriedes geklärt. Denkmalrechtliche Gründe und der für die Behörden nicht hinreichend erkennbare Bedarf an geotechnischen Daten über den Baugrund führten zu diesem abschlägigen Bescheid. Der Bergfried und seine Bauweise (siehe Tab. 2 und 3) Heute ist diese stattliche Ruine wegen der hohen Bäume in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht mehr ein so beherrschendes Wahrzeichen für das Osteroder Stadtgebiet wie noch im späten letzten Jahrhundert (Abb. 2). Ihre heutige Lage innerhalb des Friedhofs und das durch Steinschlaggefahr sehr verständliche Fehlen von Zugangsmöglichkeiten haben dieses Bauwerk vielleicht etwas aus dem Bewußtsein breiter Kreise gerückt. Um so verdienstvoller ist es, wenn der Heimat- und Geschichtsverein Osterode und die Stadt sich in den jüngsten Jahren recht intensiv mit der Zukunft der Ruine beschäftigen. Auch die so zahlreichen Spenden, die auf sinnvolle Verwendung am Bauwerk harren, sind eine Motivation, die Arbeiten voranzubringen. | Abb. 2: Blick vom St. Ägidienturm nach Nordost auf die Johannisvorstadt und Freiheit. Die Alte Burg ragt frei von sichtbehindernden Bäumen über den Dächern der Stadt empor (ohne Datum, wahrscheinlich etwa 1873). Original in Städt. Archiv Osterode (Registrier-Nr. 10-01-199-43). |
Ein erster Schritt war die gewissenhafte Vermessung, fotografische und zeichnerische Dokumentation und Baumaßberechnung des Halbzylinders durch HOLZAPFEL & KOHNKE (1990). Die Zeichnungen des Turmrelikts aus verschiedenen Richtungen, ein sehr schwieriges Unterfangen bei einem (halb-)runden Objekt, bieten für die Verblendschalen der Turmaußen- und Innenwand eine fast steingerechte Darstellung. Wesentliche Daten aus dieser Arbeit, durch eigene Berechnungen und allgemeine Angaben ergänzt, sind in Tab. 2 wiedergegeben. Es zeigt sich, daß der gewaltige Turm ein sich nach oben leicht verjüngender Zylinder von ehemals mindestens 34,5 m Höhe war. Die an der Basis etwa 3,7 m dicken Mauem ruhen offenbar auf einer Geröllsteinpacklage, die unsere Arbeitsgruppe mittels einer kleinkalibrigen Kernbohrung 2 von 3 cm Durchmesser von der derzeit tiefsten Stelle des Turminnenraums aus in 1,7 m Tiefe nachwies (s. Abb. 3). Diese Tiefenangabe ist leider ohne großen Wert, da weder die Höhe des Fußbodens im Erdgeschoß des nicht unterkellerten Turmes, noch die ursprüngliche oder die historische Höhe des Geländes um den Turm bekannt sind. Ursache dafür ist, daß sich sowohl innen als auch außen durch den weitergehenden Verfall der Ruine Absturzmassen angesammelt haben (vergl. Abb. 9). Abb. 3: Vereinfachter, etwa maßstabsgerechter Schnitt durch den untersten Bereich der westlichen Turmseite. B 02 und B 03: kleinkalibrige Kernbohrungen und ihre Befunde. Die einen Stein dicken Außenschalen und der tragende Kern mit seiner Struktur und den druckbedingten Zerr-Rissen sind eingetragen. Die Wandstärke verjüngt sich von etwa 3,7 m an der Basis stufenartig an den Unterkanten der fünf Obergeschosse um wohl jeweils etwa 15 cm. Zusammen mit großen Balkenkopflöchern boten diese schmalen Gesimse eine sichere Auflage für die Geschoßdecken. Die ehemalige Nutzflache im Turm vergrößert sich entsprechend von etwa 40 m² im Erdgeschoß auf rund 60 m² in der obersten Etage. Die Wandung des Bergfriedes zeigt die für mittelalterliche Steinbauten typische zweischalige Konstruktionsweise. Doch abweichend von den meisten alten Gebäuden, bei denen die dicken Außenschalen die Baulast tragen und der Mauerkern oft nur mit kleinen Bruchsteinen in oft zu wenig Mörtel gefüllt wurde, übt der in der Alten Burg besonders breite Innenkern die tragende Funktion aus (Tab. 3 und Abb. 3). Nur dieser zentrale Wandteil ist in den oberen Turmbereichen - zwar stark zurückgewittert - noch erhalten (Abb. 9 und 10).Die Außenschalen hingegen hatten, aufgrund der besonderen Bauweise, die Aufgabe einer Schalung. Sie wurden offenbar jeweils etwa eine Steinlage höher aufgemauert als der Kern und mit diesem während des Einbringens einer neuen Steinlage fest durch Gipsbeton verbunden. Die nur etwa 25-35 cm dicken Schalen wurden aus ausgesuchten Geröllblöcken in vergleichsweise dünne Gipsmörtelbetten gesetzt und sauber verfugt (Abb. 4). Das Mauern mit den glatten, stark gerundeten Blöcken, die wohl in Osterode gerne als "Sösekiesel" bezeichnet werden, war ein schwieriges Unterfangen. Das schnelle Abbinden (=Hartwerden) des Gipsmörtels half aber wesentlich beim Errichten des sauberen Lagenmauerwerks aus diesen für Bauzwecke wenig geeigneten Steinen. Manchmal wurden auch flache Gerölle in Schräglage vermauert (besonders im obersten Bereich der noch erhaltenen Schale im inneren Turmrund). Abb. 4: Schematischer Aufbau des äußeren Wandbereiches des Bergfriedes. Typische Schadensbilder sind dargestellt. Schwarze Linien und Bereiche im Gipsmörtel: Risse und Hohlräume. Die Außenschale ist etwa 25-35 cm Dick (aus KULKE & WEICHMANN, 1994, Abb. 5-4). Der für die Außenschalen verwendete Mörtel ist weit feinkörniger und zugleich deutlich stärker hellgrau getönt als der fast weiße oder lichtgraue Gipsbeton im Kern. Ursache des Graustichs ist die beim Zerkleinern des Branntgipses fein zerriebene, dem Brennprozeß entstammende Holzkohle.
Für das Kernmauerwerk hingegen wurde offenbar jeweils eine, vielleicht etwa 10-15 cm dicke Schicht grobstückigen, vergleichsweise langsam abbindenden Gipsbetons ausgegossen. Diese Gießmasse wurde durch die etwas höher stehenden Außenschalen am Überschwappen gehindert. In diese anfangs fließfähige Schicht wurden rasch große Gerölle dicht an dicht eingelegt oder eingedrückt (siehe Abb. 3 und 5). Diese genial einfache, dem Material optimal angepaßte Bautechnik erlaubte, solange der Materialnachschub klappte, einen ungewöhnlich hohen Arbeitsfortschritt. | Abb. 5: Detail des Turmwandprofils an der rechten (=östlichen) Turm-Bruchfläche: Man erkennt das Lagenmauerwerk aus Gipsbetongießschichten und eingelegten Geröllen. Hier sind die "Stoßfugen" ausnahmsweise ohne Mörtel. |
War der Gipsbeton beim Eindrücken der Geröllsteine schon ziemlich zäh geworden, so stieg der Gipsbrei nicht mehr vollständig zwischen den Steinen auf. Dadurch sind öfters die senkrechten Zwischenräume, die den Stoßfugen eines üblichen Mauerwerks entsprechen, nicht oder nur schlecht mit Gipsmörtel gefüllt worden (Abb. 5). Beim Gießen der nächsthöheren Gipsbreilage drang dieses Material zwar auch etwas nach unten in die offen gebliebenen Zwickel, konnte diese aber offensichtlich nicht mehr allein durch schwerkraftbedingtes Einsacken schließen. Durch solche offenen Zwickelfugen ist also einerseits eine gewisse Steife des Gießbreis belegt, andererseits können wir darin eine kleinere historische "Schlamperei am Bau" sehen, die dem Maurerpolier nicht mehr auffallen konnte, sobald die nächste Lage eingebracht war. Diese Besonderheit ist für den Turm typisch und stellt eine geringe strukturelle Schwächung des grundsätzlich sehr stabilen Wandgefüges dar. Die Geröllsteine, die im Turm in einer Menge von, grob überschlagen, etwa 2.000 m³ bzw. reichlich 5.000 t verbaut wurden, haben die Bauarbeiter nicht aus dem Sösebett gewonnen. Im übernächsten Kapitel wird aufgezeigt, daß diese Gerölle unter und neben der Burg den natürlichen Untergrund bilden. Sie stellten also den nächstbesten Baustein in handlicher Größe und hoher Stabilität, aber ungünstiger runder Form dar. Ein Zurechthauen der Steine war unnötig. Gelegentlich wurden aber große Stücke halbiert, wie man manchmal in den Außenschalen erkennt. Die Gerölle bestehen übrigens alle aus den widerstandsfähigsten Gesteinsarten im Einzugsgebiet der Söse und wohl auch des Lerbaches. Dabei überwiegen bei weitem helle, manchmal rotfleckige harte Quarzite des Unterkarbons aus dem Acker-Höhenzug (sog. Kamm-Quarzit). Schmutzig-grünlichgraue, z. T. grobkörnige Grauwacken und schwarze, splittrig-harte Kieselschiefer, ebenfalls aus dem Unterkarbon, wurden wesentlich seltener verwendet. Diabasblöcke fehlen nahezu vollständig; gelegentlich wurden Brocken von lichtgrauem Zechsteindolomit mit eingebaut. Der Gipsbedarf wurde offensichtlich aus den "Kalk"-Bergen, also dem vergipsten "Werra-Anhydrit" (stratigraphisches Kürzel: A1) des unteren Zechsteins, südlich oder südwestlich von Osterode gewonnen. Dies sind die nächsten leicht zugänglichen Gipsvorkommen. Der Bedarf an Branntgips lag bei rund 1.400 m³ oder 3.200 t; um dieses Material zu brennen, mußte ein kleinerer Hochwald verheizt werden. Heute hat es den Anschein, als sei die schöne Lagenstruktur der Geröllblöcke in den Außenschalen die alte Außenhaut des Bergfriedes. Sieht man sich die Außenwand aber genau an, lassen sich an vielen günstigen Stellen des unteren, geschützteren Wandbereiches ziemlich dünne, (<1 cm) meist nur kleinflächige Reste eines Gipsaußenputzes erkennen. Er entspricht materialmäßig dem Gipsmörtel zwischen den Blöcken der Außenhaut und entstammt offensichtlich aus der Erbauungszeit. Wo diese Putzrelikte mindestens mehrere Handflächen groß und gut erhalten sind, lassen sich mehrfach senkrecht aneinander stoßende, flache Ritzfurchen erkennen. Der Turm war also ursprünglich ein Putzbau mit angedeuteter, wahrscheinlich farblich gefaßter Steinquaderung. Dem Autoren sind keine Untersuchungen zu den Fensterdurchbrüchen, dem ehemaligen Zugang und eventuellen Treppen innerhalb der Mauer bekannt. Die latente Gefahr von Steinschlag sind einem solchen Unterfangen abträglich, dennoch besteht hier einiger Forschungsbedarf.
Tab.: 2: Geographisch-geologisch-geotechnische Grunddaten sowie wichtige Baumaße des Bergfriedes der Alten Burg Lage: | 243 m über NN und somit 26 m über Söse-Bachbett auf Westsüdwest-Ostnordost verlaufendem Höhenrücken zwischen Lerbach und Sösetal, knapp 400 m südöstl. der Marktkirche St. Ägidien | Untergrund: | grobe Schotter und Blockwerk des pleistozänen Söseschuttfächers; Baugrund ist durch sandig-schluffig-tonige Matrix vermutlich bindig und kaum kompressibel | Gründung: | flach gegründet auf Geröllstein-Packlage; Bergfried ist nicht unterkellert Bodenpressung (unter voller Bauwerkshöhe): ca. 8,5 kg/cm2 | Dokumentation: | keine historischen Pläne oder Beschreibungen; einfache Burgruinen-Grundrißskizze von 1808 Geodätische Vermessung des Bergfriedes 1989-1990 (Holzapfel & Kohnke, 1990) |
Baumaße: | (nach Holzapfel & Kohnke, 1990) Basis-Außendurchmesser: oberer Außendurchmesser: Basis-Innendurchmesser: oberer Innendurchmesser: Mauerstärke unten: Höhe daraus errechnet: ursprüngliches Mauervolumen: davon noch erhalten <45 % Fläche des Mauerringes an Basis: Innenfläche an Basis: Innenfläche oben: | 14,5 m 12,8 m 7,1 m 8,8 m 3,7 m 34,5 metwa 3.350 m³ (= etwa 8.400 t) (d. h. <1.500 m³ = etwa <3.800 t) 96 m² 40 m² 60 m² |
Die Stellung des Osteroder Bergfriedes innerhalb des mittelalterlichen Burgenbaus Der große Osteroder Bergfried steht inmitten der Tradition der zahlreichen Burgen besonders des Hochmittelalters, von denen um den Harz herum noch einige weitere bedeutende Beispiele zu finden sind. Im Uhrzeigersinn seien einige aufgezählt: Zilly (am Huy, westl. von Halberstadt), Falkenstein (Selketal, Ostharz), Querfurt, Burganlage Kyffhausen (auf dem Kyffhäuser), Hohnstein und Ebersburg (nordöstl. von Nordhausen) und Scharzfels sowie Plesse und Adelebsen bei Göttingen. Bergfriede sind (nach PIPER, 1912 + 1993) feindseitig in einer Burg gelegene Verteidigungs- und Rückzugstürme besonderer Massivität. Meist besitzen sie einen runden oder quadratischen Grundriß. Der Rundbau hat die höhere Stabilität, seine Basis ist aber von oben her schlechter zu überwachen. Die üblichen Maße von Bergfrieden sind nach Koch (1988, S. 296-301) Breite bzw. Durchmesser: | 6 - 14 m | Höhe: | 18 - 39 m | Mauerstärke (unten): | 1,5- 3m |
Wie der "Dicke Heinrich" (mit einer Höhe von 27 m, einem Durchmesser von 14,5 m und einer Wandstärke bis zu 4,35 m) in der Burg von Querfurt gehört die Osteroder Alte Burg zu den größten Türmen der Burgenbauperiode. Weit größer war nach Kenntnis des Autoren in Mitteleuropa nur noch der 1225-1230 errichtete Rundturm (H: 54 m, Durchmesser: 32 m) der Burg von Coucy (60 km nordwestl. von Reims, Nordfrankreich). Diese gewaltige Burgenanlage wurde 1917 vom deutschen Heer gesprengt (Faltblatt Chatcau de Couchy; Caisse nat. des Monuments historiques et des Sites, 1985), da sie als Pulverlager gedient hatte. Neben den Bergfrieden wurden zeitgleich im Zuge von Stadtbefestigungen übrigens ebenfalls gewaltige Wehrtürme errichtet. Imponierend ist z. B. die um 1250 errichtete "Tour Constance", auch "Donjon Royal" genannt (H: 30 m, Durchmesser: 22 m; Wandstärke in I. Etage: 6 m). Dieser dicke, untersetzte Turm ist der NW-Ecke der Ummauerung von Aigues Mortes (im Rhone-Delta, Südfrankreich) vorgesetzt. Sein Erdgeschoß-Schnitt (SALCH et al., 1987, S. 78) soll zeigen, wie kompliziert die funktionelle Wandstruktur dieser Wehrtürme oft war (Abb. 6). Der Turm der Alten Burg ist in seinem Maueraufbau vergleichsweise sehr schlicht gehalten. Wahrscheinlich waren fast alle Funktionselemente, die für einen Wohn- und Verteidigungsturm erforderlich waren, in Holz eingebaut (vergl. Abb. 7). Von der architektonischen Gestaltung gehört der Osteroder Turm also zu den einfachen Typen. Möglicherweise war es seinen Erbauern wichtiger, schnell als schön und aufwendig zu bauen. Sicher war der verwendete Baustein einer architektonischen Feinstrukturierung nicht förderlich. | Abb. 6: Schnitt durch das Erdgeschoß des Wehrturmes "Donjon Rojal" (von 1250) vor der Stadtmauer von Aigues Mortes (Südfrankreich). Die "Speichen" im Innenraum symbolisieren das Rippengewölbe des Raumes (aus SALCH et al., 1987, S. 78). | | Abb. 7: Schematischer Vertikalschnitt durch einen Bergfried mit hölzernen Geschoßöden (aus KOCH, 1988, S. 296). A: Abort, Erker AL: sog. »Angstloch« E: Eingang (Seite L) H: Hof K: Kamin L: Lichtschlitze N: Fensternische V: Verlies W: Wehrplatte |
Der geologische Untergrund (siehe Tab. 2) Die Alte Burg steht am Westende eines WSW-wärts langsam auslaufenden Bergsporns zwischen den Tälern des Lerbachs und der Söse. Der Nordhang dieses Höhenrückens ist recht steil, der Südhang hingegen wesentlich flacher, ebenso seine Abdachung auf die Innenstadt von Osterode zu. Einen guten Eindruck von der Geologie dieses Butterberg-Rückens gibt die geologische Karte 1 : 25000 von Niedersachsen, Blatt Osterode am Harz mit ihren Anlagen und Erläuterungen (JORDAN, 1976) . Es sind Schottermassen, aus Geröllen und Geröllblöcken (bis 1 m Durchmesser) des Harzer Unterkarbons bestehend, die diesen Bergrücken aufbauen. Der Zwickelraum zwischen den gerundeten Quarzit- und Grauwackensteinen ist mit tonig-unreinem Sand und Feinkies verfüllt, es kommen auch tonreiche, grobkiesfreie Linsen im Untergrund vor, wie die Butterbergtunnel-Vorbohrungen zeigten (Abb. 8). Diese durch Alterungsvorgänge ziemlich verdichteten Lockergesteinsmassen entstammen einem großen Schotterfächer, der offenbar während der ElsterKaltzeit (vor etwa 0,4 Mio. J.) aus dem Oberlauf der Söse in die Randsenke zwischen den "Kalk"-Bergen bei Osterode und südwestwärts absinkendem Harzgebirge geschüttet wurde. Diese Senke, der die Apenke und die Söse zwischen Osterode und Badenhausen folgen, entstand übrigens in erdgeschichtlich jüngster Zeit durch die unterirdische Auflösung (=Subrosion) der mächtigen Zechstein-Anhydrit (bzw. Gips)-Schichten der sog. "Werra-Serie", die die "Kalk"-Berge südwestl. der Stadt bilden. Diese Auflösungsprozesse dauern noch an und sind die Ursache für alte und junge "Erdfälle" im Gebiet der oberflächennahen Verbreitung von Zechstein-Sulfatgesteinen (also von Gips und Anhydrit). Abb. 8: Etwa 1,8 km langes geologisches SSW-NNE-Profil von den östlichen Ausläufern der Kalkberge südl. vom Kaiserteich durch das Sösetal vom Bereich der Überführung der B 241 und durch den Butterberg etwa 300 m östlich der Burgruine. Die Tragfähigkeit der Oberterrassenschotter wird von JORDAN (1976, S. 121) mit 30 - 100 MN/m² (also etwa 30 - 100 t/m2 angegeben. Nach eigenen Berechnungen beträgt die Bodenpressung unter dem Turmkoloß etwa 85 t/m² (s. Tab. 2), das heißt, daß die Belastungsfähigkeit des Untergrundes voll ausgeschöpft wird.
Der Zustand und die Gefährdung des Bergfriedes (siehe Schemaskizze Abb. 9 und Tab. 3) Abb. 9: Schematischer, nicht maßstäblicher Vertikalschnitt durch das Mauerwerk des Bergfrieds. Dargestellt sind typische Schadensbilder sowie der Weg der einsickernden Niederschläge (aus KULKE & WEICHMANN, 1994, Abb. 5-15). Vergleicht man Fotografien der Alten Burg aus der Zeit der Jahrhundertwende mit dem heutigen Zustand, so wird das erschreckende Ausmaß des Verfalls offensichtlich (Abb. 10): viele Kubikmeter Mauerwerk des bloßliegenden, verwitterten oberen Mauerkerns sind von den Ecken des höchsten Ruinenteils abgestürzt, mehrere Quadratmeter der Innenschale sind herabgefallen. HOLZAPFEL & KOHNKE (1990) erwähnen den Absturz von 2,5 m² der Außenschale an der Nordseite des Turmes im Jahre 1990.
Abb. 10: Blick von Süden in das Halbrund des Bergfrieds der Alten Burg. (Foto "Alte Burg von 1905, Städt. Archiv Osterode, Reg.-Nr. 10-02-199-03). Schräg schraffiert: bis Sommer 1995 abgestürzte Mauerbereiche; senkrecht schraffiert: herabgefallene Teile der Innenraum-seitigen Lagenmauerwerksschale. Weiße Pfeile: Ablösungskluft der Innenschale, die sich zwischenzeitlich nur wenig nach oben ausgedehnt hat./blockquote> Die starke strukturelle bzw. statische Gefährdung der oberen Partien des Halbzylinders zeigt sich besonders gut auf der Nordseite (Abb. 11). Tiefe Risse haben sich an den Rändern der hohen Mauermasse gebildet. Ursache ist der gewaltige Druck des Mauerwerks und das Fehlen eines seitlichen Widerlagers. Grundsätzlich ist ein derartiges Segment eines Rundturms statisch gefährdet, wobei die latente Instabilität mit der Höhe stark ansteigt. Neben diesem sehr langsamen seitlichen Auseinanderschieben des stehenden Zylindersegments zeigt die Mauer auch zahlreiche konzentrische Risse. Auch diese, die Turmmauerdicke geringfügig scheinbar erhöhenden Risse (vergl. Abb. 3) folgen aus der Tendenz der Mauermasse, aufgrund ihres Gewichts nach unten zu sacken. Ähnliche Prozesse führten am I7. 03. 1989 zum plötzlichen Einsturz eines romanischen Turmes neben dem Dom in der norditalienischen Stadt Pavia. Hier hatte sich der Mörtel wohl im Laufe der Jahrhunderte besonders stark zersetzt gehabt.
Abb. 11: Übersichtsskizze des Zustandes der Bergfried-Ostseite (nach Foto vom Juli 1994 gezeichnet; Befunde nach Fernglas-Beobachtungen. Die Skizze ist perspektivisch verzerrt. Zu diesen Gefährdungen kommen noch die Sprengwirkungen von Pflanzenwurzeln und Frost. Letzterer greift besonders dort an, wo Risse und Spalten durch eingespültes Feinmaterial und abgestorbene Pflanzenteile verstopft werden. Auch die Anlösung des Gipsbaustoffes durch die Niederschläge führt, besonders in den exponierten oberen Turmteilen, zu einer langsam ablaufenden Schwächung des Gefüges.
Trotz der offensichtlichen Gefährdung der Ruine, die über den Absturz einiger Steine (z. B. von der Höhe der Nordwand Mitte Nov. '94) weit hinausgeht, ist die Grundstruktur der Turmruine aber offensichtlich noch stabil genug, um ihre Sicherung, Sanierung und Restaurierung voll zu rechtfertigen. Diese für das hohe Alter, die große Höhe, die ungünstige, seitlich nicht abgestützte Ruinenform erfreuliche, aber ungewöhnliche (Rest-)Stabilität ist in der hohen Qualität des Gipsmörtels bzw. Gipsbetons begründet. Nach den Ergebnissen eines umfangreichen Analysenprogramms (Bestimmung der Druckfestigkeit, der Porosität, des Gefüges und der Größe der Gipskriställchen im Mörtel - Abb. 12 und 13 - sowie der Nebengemengteile usw.) zeigte sich, daß dieses über 800-jährige technische Branntprodukt noch eine Festigkeit aufweist, die im Kennfeld für Portlandzement-Beton liegt 3. Trotz der vorhandenen in der Regel eher geringen Anlösungserscheinungen (Abb. 12) genügt das Gipsmörtelmaterial noch voll heutigen Ansprüchen. Die auftretenden Risse sind nicht eine Folge der Verwendung von Gipsmörtel, sondern ergeben sich wohl ausschließlich aus der Statik und dem Alter der Ruine. Wahrscheinlich hatte Kalkmörtel den dauernden Angriff der Ruine von allen Seiten her durch Temperaturschwankungen, Regen, Durchfeuchtung, Frost sowie Winddruck über etwa 450 Jahre wesentlich schlechter überstanden als das hiesige Material. Kalkmörtel wird durch die zivilisatorisch bedingte deutlich erhöhte Säurekonzentration im heutigen Niederschlag wesentlich stärker und nachhaltiger geschwächt als Gips. Letzterer hat zwar eine höhere Löslichkeit, aber auch ein sehr ausgeprägtes Umkristallisations- bzw. Neuausscheidungsvermögen (vergl. Abb. 4). Dadurch können z. B. feine Risse im Gips materialidentisch und belastungsfähig wieder teilweise verschlossen werden. Derartige Gipsneukristallisationen vollziehen sich vorwiegend in den unteren Turmbereichen, während die mehr wetterexponierten oberen Teile große Niederschlagsmengen längs der Risse einsickern lassen und dadurch stärker angelöst und gelockert sind (Abb. 9). Abb. 12: Typisches Gefüge des Osteroder Gipsmörtels (Rasterelektronenmikroskop =SEM-Aufnahme, Bildbreite: 3 mm). Das feste Gefüge wird durch einzelne winzige Hohlräume durchbrochen. Die runde Pore ist eine Blase, die beim Anrühren des Gipsbreis entstand, die anderen Löcher dürften durch Anlösung entstanden sein [Probe OSTE-M-3, Foto: F. Sandhagen & M. WEICHMANN]. Abb. 13: Stark vergrößertes Mikrogefüge einer durch Lösungs- und Umkristallisationsprozesse struktuell veränderten Mörtelprobe. Die Gipskristalle sind größer und linsiger als im unveränderten Zustand. Trotz eines hohen Porenanteils sind die Kristalle recht gut verwachsen [ Probe OSTE-M-07b, Foto: F. Sandhagen & M. WEICHMANN], aus KULKE & WEICHMANN, 1994). Neben dieser knapp umrissenen Gefährdung der Ruine selbst besteht auch die latente, keineswegs zu unterschätzende Gefahr durch Absturzmassen für Personen, die sich im burgnahen Friedhofsteil oder auf der Freiheiter Seite unterhalb des Bergfrieds aufhalten. Die Unebenheit des unmittelbaren Burgareals und ein kleiner Gerölldamm an seiner Nordwestkante bieten, genauso wie das im Frühjahr 1995 gespannte Sicherungsnetz an der Nord- und Nordwestseite, einen wohl ausreichenden Schutz gegen die Risiken durch einzelne abstürzende Steinbrocken. Sollte sich hingegen eine der gewaltigen, vorgelockerten Außenecken des oberen Turmsegments (vergl. Abb. 11) lösen, so würde sich eine bedeutend größere Gefährdung ergeben. Ihr Ausmaß wurde davon abhängen, wie stark sich die abstürzenden Massen an den Rauhigkeiten der Abrißstelle verhaken und wieweit die sich ergebende "Wurfbahn" vom Bauwerk wegreichen würde. Dabei ist davon auszugehen, daß ein derartiger Großabsturz sich keineswegs vorher deutlich ankündigen würde. Dieses größte anzunehmende Schadensereignis würde wahrscheinlich während einer Auftauperiode oder nach langen schweren Regenfällen, eventuell in Kombination mit einem Blitzeinschlag, eintreten.
Gedanken und Vorschläge zur Sicherung, Sanierung und Restaurierung (siehe Tab. 3) Auf die Bedeutung des Bauwerks als Kulturdenkmal und die grundsätzliche Wichtigkeit seiner Erhaltung, Sicherung und qualifizierten Restaurierung war weiter vorne hingewiesen worden. Die gewaltigen Ausmaße und die Höhe der Ruine lassen die Schwierigkeiten und die Kosten der erforderlichen Maßnahmen stark ansteigen. Eine weitere Erschwerung liegt darin, daß Fahrzeuge nicht bis an die Ruine herangefahren werden können. Da auch das Ausmaß der Schäden in den oberen Bereichen von unten schwer zu beurteilen ist, können die Gesamtkosten der erforderlichen Maßnahmen an der Ruine durchaus mehrere Millionen DM erreichen.
Tab. 3: Grunddaten zur Bautechnik, Statik, Gefährdungen sowie zur Sicherung und RestaurierungBautechnik: tragender Mauerkern (unten: ca. 80 % der Mauerstärke von hier 3,70 m) vorw. als Lagenmauerwerk mit Geröllblocklagen auf Gipsbeton-Gießschichten beidseitig synchron beim Bau vorgeblendet: sauber gesetzte, lagig gemauerte Einstein-Außenschale (ca. 25 - 35 cm dick) aus bes. großen, ausgesuchten Geröllblöcken, in Gipsmörtel, sauber verfugt und vermutlich ehem. dünn mit Gipsputz (mit Quaderritzung) verputzt.Statik: offensichtlich keine Gefährdung vom Baugrund her; schwache Neigung nach außen des niedrigen westl. Segments wohl durch historische unterschiedliche Bodenkompaktion bedingt, dadurch tiefer alter Spalt im NW; südl. Segment vermutlich durch Boden kriechen zwischen 1512 und 1545 eingestürzt. Halbzylinder ist grundsätzlich statisch instabil, seitliches Abscheren erzeugt Klüfte und Abbrüche, die Halbkreis-Mauer wird durch Auflast radial gedehnt. Gefährdungen: 1. potentielles Abreißen großer höherer Mauerteile an steilen Scherrissen 2. Herabfallen von Außenschalen-Steinen bzw. -Flächen (1990: 2,5 m²) 3. Herabstürzen von kleineren Mauerkern-Massen (zuletzt Nov. 1944: ca. 50 - 100 kg) Vorschläge zur Sicherung und Restaurierung: 1. Beräumen der Ruine von lockerem Material, Sichern von lockeren Außenschalen-Teilen 2. Verfugen und Verpressen (mit Gipsmörtel) von Rissen, Hohlräumen und Ablösungen der Außenschale 3. Zuganker setzen und Außenschalen "vernadeln" 4. Abdecken der Mauerkrone mit Bleiblech 5. Drainage des Untergrundes vor Westseite verbessern
Auf Tabelle 3 sind unten die dringenden Maßnahmen aufgelistet. Das Abräumen lockeren Materials vor der Turmruine sollte als erster Schritt - z. B. von einem Turmkran aus - durchgeführt werden. Wahrscheinlich müßten auch einzelne, sich verwölbende Bereiche der gelockerten Verblendschale gesichert werden. Dies könnte besonders durch ein gut zu verankerndes stabiles Maschendrahtnetz erfolgen. Danach könnten alle folgenden Maßnahmen weitgehend ohne die latente Gefahr stürzender Steine durchgeführt werden. Um dem Mauerwerk wieder für eine längere Zeit hinreichende Stabilität zu verleihen, sind Verpressungen größerer Risse und das Setzen von Zugankern und Vernadelungen erforderlich. Vor beiden Maßnahmen muß ein Gerüst aufgebaut worden sein, von dem die Arbeiten und die erforderlichen Voruntersuchungen zur Optimierung der Sicherungsarbeiten durchgeführt werden können.Als Verpreßmaterial sollte entsprechend eingestellter Gipsmörtel verwendet werden. Dazu sind noch Optimierungsforschungen erforderlich. Anker und Nadeln sollten aus Edelstahl gefertigt sein. Grundsätzlich ist die Verwendung der neuen "Sandanker", die durch eingeblasenen Sand in die Mauer eingebunden werden, zu erwägen. Schadstellen im Mauerwerk (z. B. Ausbrüche in den Außenschalen: siehe Abb. 9) sind aus statischen Gründen zu verschließen. Dazu sollte Originalstein und nachgemischter Gipsmörtel verwendet werden. Geeignetes, in seinen Eigenschaften dem historischen Gipsmörtel stark angenähertes Material wird nur von einem Anbieter (Fa. M. Steinbrecher, Mühlhausen) hergestellt und erfolgreich eingesetzt. Wir haben dieses Material im Rahmen des Gutachtens für die Stadt Osterode intensiv getestet und grundsätzlich für gut befunden (KULKE & WEICHMANN, 1994). Die Tests und Parallelentwicklungen durch die Arbeitsgruppe um W. Binnewies (Förste) und H. Kulke sowie Prof. H. Follner und D. Vogel dauern an (siehe z. B. Zeitungsnotiz im Harzkurier vom 03. 08. 1995: "Restaurierungsmörtel für Denkmalpflege gewinnen"). Offene Spalten im bloßliegenden Mauerkern der oberen Turmhälfte müssen mit Gipsmörtel verschlossen werden, um den Wassereintritt in das Gemäuer stark zu verringern (vergl. Abb. 9). Aus dem gleichen Grund wird vorgeschlagen, die Mauerkrone mit Bleiblech abzudecken. Dieses plastische, sehr dauerhafte und nicht färbende Material kann der unebenen Gestalt dieser welligen Oberfläche leicht angepaßt werden. Als begleitende Maßnahme sollte die Ableitung der Oberflächen- und Sickerwässer vor dem leicht nach außen geneigten niedrigen, westlichen Mauerteil verbessert werden Ideen zu einer Nutzung nach erfolgter Sicherung und Sanierung Wenn, hoffentlich in absehbarer Zeit, die Finanzierung sichergestellt und die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt sind, sollte das Bauwerk nicht nur durch das abendliche Flutlicht zur Geltung gebracht werden. Daher wird angeraten, den Baumbewuchs auf dem kleinen Burgenplateau stark zu lichten und eine Aussichtsplattform in den Halbzylinder der Ruine einzubauen. Von einer solchen über Treppen zugänglichen Plattform in z. B. 20 m Höhe böte sich ein vorzüglicher Blick über die Stadt und den Harzrand sowie die "Kalk"-Berg-Steilstufen. Eine erste Ideenskizze eines freitragenden, d.h. nicht in das historische Mauerwerk eingebundenen und mit Stahlseilen abgespannten Stahlrohr-Turmes ist in Abb. 14 und 15 dargestellt. Andere bautechnische Lösungen sind aber ebenfalls denkbar. | Abb. 14: Erster Entwurf für eine Aussichtsplattform innerhalb der Bergfried-Ruine (H.-J. Boyke. Cl.-Z., Jan. 1995). Maßgenaue Zeichnung der Ruine: HOLZAPFEL & KOHNKE, 1990). | | | Abb. 15a: Grundriß der Turmruine und Ideenskizze eines eingestellten, durch Stahlseile abgespannten Stahlrohrturmes mit einer dreifach im Winkel von 120° gebrochen gewendelten Treppe (H.-J. Boyke, Cl.-Z., 1995). | Abb. 15b: Detailskizze der Stahlrohrstützen und des Treppenverlaufs im Turm (H.-J. Boyke, Cl.-Z., 1995). |
Danksagung: Dem Bauamt der Stadt Osterode gebührt Dank dafür, daß für diesen Beitrag Abbildungen und Ideen aus dem Gutachten von KULKE & WEICHMANN (1994) verwendet werden dürfen. Herrn Baudir. i. R. Hans-Jürgen Boyke, Clausthal-Zellerfeld, sei herzlich gedankt für die Anfertigung von Ideenskizzen über einen vorgeschlagenen Aussichtsturm Herr Eder, Stadtarchiv Osterode, war sehr behilflich bei der Suche nach Archivalien über die Alte Burg. Die Herren H.-J. Boyke und Baudir. P. Helbich, Staatshochbauamt Harz, Clausthal-Zellerfeld, haben den Text durch fachlichen Rat verbessert, dafür gebührt ihnen großer Dank. Literatur GEHMLICH, K. (1993): Das Osteroder Wahrzeichen - Nach Jahrzehnten des Verfalls: Alte Burg kurz vor der Sanierung? - Unter dem Harze, Blätter Osteroder Kreis-Anzeiger f. Heimatpflege und Heimatkunde; Nr. 486, 6. 3. 1993. HOLZAPFEL, F. & KOHNKE, H.-G. (1990): Die Bausubstanzerfassung der Burgruine »Alte Burg«, Stadt Osterode am Harz, Landkreis Osterode am Harz - Heimatblätter für südwestl. Harzrand, H. 46, S. 17-38, Heimat- und Geschichtsverein Osterode. JORDAN, H. (1976): Geologische Karte von Niedersachsen 1 : 25000, Blatt Osterode am Harz Nr. 4227 mit Anlagen und Erläuterungen (148 S.) - Niedersächs. Landesamt für Bodenforschung, Hannover. KOCH, W. (1988): Baustilkunde; ein Standardwerk der europäischen Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart, 528 S. - Orbis Verlag, München. KULKE, H. & WEICHMANN, M. (1994): Projekt Sicherung und Sanierung der Alten Burg zu Osterode: Untersuchungen an historischen sowie an nachgemischten Gipsmörtel- bzw. Gipsbetonproben mit Empfehlungen zur Restaurierung. 55 S., 11 S. Anhang - unveröffentlichtes Gutachten im Auftrage des Bauamtes der Stadt Osterode. MERIAN, M. (1654/1961): Merian Topographia Germaniae, Band Braunschweig Lüneburg - Faksimile-Ausgabe, Hrsg. WÜTHRICH, L.H. - Bärenreiter-Verlag, Kassel & Basel. PIPER, O. (1912+1993): Burgenkunde: Bauwesen und Geschichte der Burgen zunächst innerhalb des deutschen Sprachgebietes; verbesserter und erweiterter Nachdruck der 3. Auflage 1912; 711 S. und eine Faltkarte - Weltbild Verlag, Augsburg. PISCHKE, G. (1993): Osterode im Mittelalter - Werden und Wachsen einer alten Stadt, S. 17-139 in: LEUSCHNER, H., Hrsg.: Osterode: Welfensitz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte - G. Olms-Verlag, Hildesheim. SALCH, CH.-L. ed. (1987): Atlas des villes et villages fortifies en France du Vr siecle a la fin du XVe siecle, 491 p. - Ed. Publitotal, Strasbourg. STOLBERG, F. (1968): Befestigungsanlagen im und am Harz von der Frühgeschichte bis zur Neuzeit - Hildesheim.
1 Beton: durch Zuschlagstoffe gestrecktes, gießfähiges selbsterhärtendes Baumaterial, das - im Gegensatz zu Mörtel- nicht (oder nicht nur) Bausteine zusammenhält, sondern nach dem "Abbinden" seines Bindemittelanteils selbst formgebende, tragende Funktion übernimmt. Beton wurde von den Römern schon kurz nach Christi Geburt verwendet. Der Begriff bezieht sich keineswegs nur auf den (Portland-) Zement-Beton, der vor reichlich 100 Jahren marktbeherrschend wurde.
2 Durchführung Anfang Dez. 1994 durch Arbeitsgruppe Historische Gründungen unter Prof. Dr. G. Heise, Fachhochschule Leipzig, im Zuge des eingangs genannten Gutachtens.
3 Einachsige Druckfestigkeiten im Punktlastversuch an 12 Proben von Gipsbeton der Alten Burg: 26 - 53 MPa; üblicher Portlandzement-Beton zum Vergleich: 10 - 60 MPa (KULKE, II. & WEICHMANN, M. 1994). |