Zum Problem der Facetten- und Laugdeckenbildung
in Gipshöhlen

Von Fritz Reinboth (Walkenried)

Der kürzlich in dieser Zeitschrift veröffentlichte Diskussionsbeitrag von S. KEMPE über die Entstehung von Gipshöhlen (KEMPE 1970) setzt sich u. a. mit verschiedenen früher geäußerten Vorstellungen (GRIPP 1913, BIESE 1931, GOODMAN 1964 und 1969, REINBOTH 1968) über die Bildung von Laugdecken und Facetten auseinander. Die Arbeit von GOODMAN, die auf eine ältere von LANGE (1963) zurückgeht, wurde hier leider erst bei einer Diskussion im Rahmen der Osteroder Tagung des Verbandes deutscher Höhlen- und Karstforscher im Jahre 1968 bekannt. Bezüglich der Facettenbildung kommen LANGE, GOODMAN und REINBOTH unabhängig voneinander zu übereinstimmenden Ergebnissen, d. h., die Facetten werden als Ablagerungsflächen von Lösungsrückständen („lanes of repose“) betrachtet. Da die Facettenfläche durch diese Sedimente weiterer Ablaugung im wesentlichen entzogen ist, erfolgt die Gesteinsauflösung an den oberhalb liegenden Gesteinspartien, d. h. an der Decke und an überhängenden Wandteilen, die gegen die Facetten stets deutlich abgegrenzt sind. Mit fortschreitender Laugung erweitert sich die Facette dabei nach oben, wobei ihre Ebene erhalten bleibt. Deshalb liegt die Facettenoberkante an Wandvorsprüngen tiefer und an Ausbuchtungen höher. Die Neigung der Facette ist durch den Winkel gegeben, bei dem die Lösungsrückstände (und sonstige Sedimente) liegenbleiben, also durch eine Art natürlichen Böschungswinkel. Für die Facettenebene prägte GOODMAN (1969) den treffenden Ausdruck „Ruhefläche“.

KEMPE (1970) meldet gegen diese sehr einfache Erklärung Bedenken an und setzt einen ziemlich komplizierten Regelvorgang an deren Stelle, welcher Parallelversatz der Facettenfläche und auch ihre Neigung garantieren soll. Das Problem der Neigung macht dabei allerdings einige Schwierigkeiten und bleibt eigentlich ungelöst. Eine Erklärung mit Hilfe der Gips-Ammoniak-Reaktionen KEMPES (1970, Seite 132) wird durch die von LANGE (1963) und GOODMAN (1969) mitgeteilte Beobachtung gleichartiger Flächen in Kalkhöhlen illusorisch.

Abb. 1: Entwicklung eines blinden Ganges durch Höherverlegen der Laugdecke und Erweiterung der Facetten nach oben (schematisiert). 1., 2., 3.: Stadien der Auslaugung. Die zwischen Laugdecke und Facette normalerweise vorhandenen überhängenden Wandteile, die gegen Facette und Laugdecke deutlich abgesetzt sind, wurden fortgelassen.

Wie sich sehr einfach zeigen läßt, ist auch KEMPES Hauptargument gegen die LANGE-GOODMAN-REINBOTHSCHE Ruheflächentheorie (KEMPE 1970, S. 129) ohne Beweiskraft: Es trifft nämlich nicht zu, daß das Längsprofil blinder Gänge mit horizontaler Decke und ansteigender Sohle dieser Theorie widerspricht und nur durch Parallelversatz der Facetten gedeutet werden kann. Wie Abb. 1 zeigt, läßt sich gerade bei konsequenter Anwendung der Ruheflächentheorie gar kein anderes Längsprofil entwickeln. Dazu darf man aber nicht von einem konstanten Wasserspiegel in Höhe der Laugdecke ausgehen, sondern muß Drucklaugung (im Wechsel mit Niederwasserperioden) voraussetzen. Wie sich unter diesen Umständen eine horizontale Laugdecke als stabile Form ausbilden kann, ist hier schon einmal erörtert worden (REINBOTH 1968).

Auf die Bedeutung von Lufteinschlüssen für die Entstehung ebener Deckenflächen wies bereits LANGE (1964) hin. Der Einschluß von Luft an unebenen Decken erfordert ein gelegentliches Absinken des Wasserspiegels unter die Decke. Wie bereits früher dargelegt, hat auch ein Schwanken der Spiegelhöhe um das Deckenniveau eine Einebnung zur Folge. In diesem Zusammenhang ist die auch von KEMPE aufgeworfene Frage der Frischwasserversorgung der Höhle von Bedeutung. Angesichts der normalerweise ziemlich weitgehenden Sättigung der Höhlengewässer mit gelöstem Gips erscheint die Gipslösung als zyklischer Vorgang, der seinen Höhepunkt in der Periode der Wiederauffüllung der Höhlengewässer nach einer Niederwasserperiode erreicht, z. B. bei der Schneeschmelze. Für diese verhältnismäßig kurze Zeit zwischen Entleerung (bzw. Teilentleerung) und neuem Hochwasserstand sind die oben gegebenen Voraussetzungen für die Ausbildung der Laugdecke keineswegs so abwegig, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Laugwirkungen während der Hochwasserperiode bei zunehmend gesättigtem Wasservorrat dürften vergleichsweise geringer sein als diejenigen unmittelbar nach starken Frischwasserzugängen, welche sich nach weitgehender Entleerung bei möglichst geringfügiger Vermischung mit „verbrauchtem“ Altwasser am stärksten auswirken müssen.

Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich auch längere blinde Gänge deuten, die KEMPE als Beweis für die Zufuhr des Frischwassers durch Deckenklüfte ansieht (KEMPE 1969). Nun lassen sich die hydrologischen Verhältnisse der Segeberger Höhle, wo ein solcher Gang vorhanden ist, heute nicht mehr nachweisen, da die Höhle bei ihrer Entdeckung im Jahre 1913 bereits trocken war. Es ist aber m. E. unwahrscheinlich, daß der Wasserstand in dieser Höhle nicht ebensolchen Schwankungen unterworfen war wie in allen aktiven Gipshöhlen. Jedenfalls ist eine Füllung des Ganges mit Frischwasser innerhalb weniger Tage oder Wochen ebenso denkbar wie eine kontinuierliche Regenerierung durch Sickerwasser, zumal das Sickerwasser nach Durchlaufen enger Klüfte bereits nicht mehr als Frischwasser in der Höhle ankommt.

Es ist merkwürdig, daß die jedem Praktiker vertrauten jahreszeitlichen Schwankungen der Gipshöhlengewässer von einigen Theoretikern immer wieder ignoriert oder als Sonderfall abgetan werden, GRIPP fand die Segeberger Höhle, die er bearbeitete (1913), bereits trocken. Da ihm die Verhältnisse in den Harzer Höhlen offenbar nicht bekannt waren, konnten ihm kaum Zweifel an einem in horizontalen Hohlkehlen und Decken dokumentierten konstanten Wasserstand kommen.

Bei BIESE (1931) ist das Dilemma bereits vollkommen. Einerseits erwähnt er ausdrücklich Niederwasserstände, also Spiegelschwankungen, andererseits hält er an der vom Wasserspiegel gebildeten Laugdecke fest. Auch KEMPE (1969, Kap. 5, S. 1) behauptet ausdrücklich die Existenz konstanter Wasserstände über längere Zeiträume, GOODMAN (1964) und LANGE (1963) befassen sich mit dem Thema des Wasserstandes gar nicht, da sie die Facetten für sich allein betrachten.

Die Frage der Wasserführung der Gipshöhlen ist aber das Kernproblem aller diese betreffenden Theorien, wie sich an den Gegensätzen zwischen der GRIPP-BIESESCHEN „Kippflächentheorie“, KEMPES Parallelversatztheorie und der Ruheflächentheorie aufzeigen läßt. Bei Annahme eines konstanten Wasserspiegels müßte die Höhlenbildung zwangsläufig an den Seitenwänden durch Kippung oder Parallelversatz vor sich gehen. In beiden Fällen dürfte es nach der Theorie nur Wände mit Facetten — im ersten Falle mit altersbedingten Neigungsvarianten, im zweiten mit „irgendwie“ eingeregeltem und definiertem Winkel — geben. Es gibt aber zahlreiche Laugräume, in denen die Wände nur zum Teil durch Facetten gebildet werden (z. B. im Klinkerbrunnen, vgl. REINBOTH 1965). Die Erklärung der an den übrigen Wandflächen vorhandenen kolkartigen Bildungen, überhängenden Wandpartien und Laugnäpfe ist nach den angeführten Theorien nur unter völlig undiskutablen vadosen Verhältnissen möglich.

Abb. 2: Laugraum mit Facette und Laugdecke (Wassergang der Marthahöhle bei Düna/Harz}. Über der Facette überhängende Wand mit Laugnäpfen. Raumhöhe über dem Wasserspiegel (Niederwasserstand im Winter 1969/70) ca. 0,5 m.

Die Ruheflächentheorie fordert die Ausbildung von Facettenflächen nicht zwangsläufig, da diese von (wie immer gearteten) Ansatzflächen ausgehend gebildet werden. Laterale Erweiterung der Hohlräume ist also jederzeit möglich, solange es nicht zur Facettenbildung gekommen ist. Auch die hier zwanglos einzuordnenden kolkartigen Auslaugungen oberhalb der Facetten (Abb. 2) sind nach der Kipp- und Parallelversatztheorie nicht deutbar, wenn man sie nicht etwas vage als „nachträgliche Überformung“ abtun will. Die Erweiterung der Facette nach oben gemäß der Ruheflächentheorie bedingt aber eine Auslaugung nach oben, d. h. eine unter Druck stehende Laugdecke. Diese wird dabei zurückverlegt und unter den bereits erörterten Umständen nivelliert.

Es steht natürlich außer Zweifel, daß vereinzelte Wasseransammlungen ihre Spiegelhöhe über größere Zeiträume nicht verändern und somit ebene „Laugdecken“ erzeugen können. Für einen Teich im Polenloch bei Düna (REINBOTH 1963) — der einzige bekannte Fall im Harz! — beträgt dabei der größte Beobachtungszeitraum ganze 10 Jahre, während die Spiegelschwankungen z. B. in den Mansfelder Schlotten („Wog“) seit Jahrhunderten bekannt waren, was ebenso von vielen Erdfallseen sicher überliefert ist (HAASE 1935). Es wäre Selbsttäuschung, wenn man diese Tatsache übersehen und einer schönen Theorie zuliebe die Ausnahme zur Regel erheben wollte.
 

Literatur:

Biese, W.: Über Höhlenbildung I — Entstehung der Gipshöhlen am südlichen Harzrand und am Kyffhäuser. — Abh. Preuß. Geol. L . A., N. F., Heft 137, Berlin 1931.

Goodman. L. R.: Planes of Repose in Höllern, Germany. Cave Notes Vol. 6 (1964), No. 3.

Goodman, L. R.: Ein Beitrag zur Frage der Laugung bei gleichzeitiger Anwesenheit von Sediment. — Die Entstehung von Ruheflächen in Höhlen. — Referat 5. IKS, Stuttgart 1969.

Gripp. K.: Über den Gipsberg in Segeberg und die in ihm vorhandene Höhle. Jb. Hamb. wiss. Anst. 30 (1912/13).

Haase, H : Die Südharzer Gipshöhlen und das Karstwasserproblem. — Mitt. Höhl.- u. Karstf. 1935.

Kempe. S.: Die Unterwasserphase der Speläogenese im Gips. — Jugend forscht, 1969, Hamburg (unveröffentlichtes Manuskript).

Kempe, S.: Beiträge zum Problem der Speläogenese im Gips unter besonderer Berücksichtigung der Unterwasserphase. — Die Höhle, 21 (1970), Nr. 3.

Lange, A. L . : Planes of Repose in Caves. — Cave Notes Vol. 5 (1963), No. 6.

Lange, A. L . : Planar Domes in Solution Caves. — Cave Notes Vol. 6 (1964), No. 3.

Reinboth, F.: Das Polenloch bei Düna. — Mitt. Verb. dt. H - u. Kf., 1963/1.

Reinboth, F.: Neues vom Klinkerbrunnen. — Mitt. Verb. dt. H.- u. Kf., 1965/4.

Reinboth, F.: Beiträge zur Theorie der Gipshöhlenbildung. — Die Höhle, 19 (1968), Nr. 3.


REINBOTH, Fritz (1971): Zum Problem der Facetten- und Laugdeckenbildung in Gipshöhlen.- Die Höhle 22 , H.3, 88-92, 2 Abb., Wien

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