Horst Gaevert (1984)

Gänseschnabel

Wohl kaum ein anderes Objekt des Harzes hat seine Funktion und seinen Namen so oft geändert! Das heutige FDGB-Erholungsheim „Ilfelder Tal“ war früher

Holzwarenfabrik Jericho und Schönian
Parkettfabrik Schulze
Ilfelder Talbrauerei
Bierniederlage Wolters und Balhorn
Dampfsägewerk Menz
Kurhaus Ilfelder Tal und schließlich
Hotel „Gänseschnabel“.
Die bekannteste der Bezeichnungen dürfte „Gänseschnabel“ sein. Dieser Name ist einprägsam, paßt zum Harz und ordnet sich demzufolge regional ohne Schwierigkeiten in die Landschaft ein. Dabei unterscheiden viele Bewohner des Harzgebietes, die nicht in unmittelbarer Nähe von Ilfeld wohnen, nicht klar zwischen dem o. g. Gebäudekomplex und dem gleichnamigen Felsen. Die wichtigste Ursache ist darin zu suchen, daß der Name Gänseschnabel oft in Gesprächen genannte wird und durchreisende Bürger kaum auf das in Rede stehende Objekt aufmerksam gemacht werden.

Das heutige FDGB-Erholungsheim befindet sich zwar dicht unterhalb der F4, kann von ihr aus jedoch nur im Dachbereich der Gebäude eingesehen werden. Der Anblick von der etwa 200 m entfernten Harzquerbahn ist durch das davorliegende Waldbad Ilfeld nicht gegeben. Des weiteren fehlen an der F4 sowie in Ilfeld gut sichtbare Hinweistafeln. Daher bieten sich den potentiellen Gästen, die per Straße oder Schiene anreisen, statt dessen Ilfeld oder Netzkater als Ziele für die gewünschte Bewirtung.
Die Geschichte des Objektes begann im Jahre 1853 mit dem Erwerb von Grund und Boden zum Bau einer „Holzwarenfabrik“. Anschließend errichteten Jericho und Schönian auf der ca. 2,4 ha großen Fläche einen Teil des heutigen FDGB-Erholungsheimes. Dieses Wohnhaus wurde „massiv von Brandsteinen mit Ziegeldach“ (vgl. A 1) gebaut. Drei weitere Gebäude, die aus Holzfach-, Holzfächer- sowie Holzbindewerk bestanden und Ziegeldächer besaßen, dienten der Aufbewahrung von Holz sowie als „Arbeitsbaracken“ (A 1). Die Antriebsenergie für die Maschinen wurde von Turbinen geliefert. Das hierfür erforderliche Wasser ist der Behre im Bereich des Richterschachtes entnommen worden. Zunächst leitete man es in einen Graben (sog. Obergraben) am Hang des Ilfelder Tals bis zum Nordhang des Fischbachtals und von hier aus in Gußrohren mit einem Durchmesser von 50 cm bis zu den Turbinen, die sich in Kellergewölben zwischen der Behre und dem heutigen FDGB-Heim befanden.

In diesem Betrieb wurden „allerlei Größen der amerikanischen Kugelwaschmaschinen, patentierte und geschätzte Apfel- und Kartoffel-Schälmaschinen“ sowie Parkett hergestellt (D 1). Im März 1856 brach ein Brand aus, der durch sofort einsetzende Löscharbeiten bald unter Kontrolle gebracht wurde. Nach dem Brande änderte die Firma Jericho und Schönian ihr Produktionssortiment und stellte nur noch Parketten her. Damit war sie die älteste Parkettfabrik im mittel- und norddeutschen Raum. Die Situation war auf Grund des Holzreichtums des Harzes und der zur Verfügung stehenden Wasserkraft der Behre äußerst günstig. Nur für gehobene Ansprüche wurden Edelhölzer aus dem Ausland verarbeitet.

Im Jahr 1859 verfügte die „Maschinen-Parketten Fabrik“ über eine 12-16 PS-Dampfmaschine, die als Reservemotor für wasserarme Zeiten diente. Sie hatte nach „Umständen die Sägemühle, eine Anzahl Kreis- und Bandsägen, Fourniersägen, Hobelmaschinen, Elevatoren und Schleifsteine“ anzutreiben (A 2).

Ein zeitgenössischer Ilfelder Bürger gibt seine Erinnerungen wie folgt wieder (D 1): Man hörte von Ferne das Kreischen der Kreissägen und das Getöse der Dampfmaschinen. Einige Fuhrwerke luden Rohholz am Werk ab, und andere verließen es mit den fertigen Parketten. Rege Tätigkeit herrschte im Betrieb. Trotzdem geriet die Fabrik Jericho und Schönian im Jahre 1860 in Konkurs. Danach erwarben sie Franz Athenstedt und wenig später Carl Schulze und Kämpf. Der mehrfache Eigentümerwechsel hatte sich nicht negativ auf die Qualität der Parketten ausgewirkt, denn im Jahre 1862 erhielt der Betrieb auf der Kunst- und Industrieausstellung in Nordhausen den ersten Preis für Parkettfußböden und Tischplatten.

Qualität und Absatz der Erzeugnisse waren offensichtlich so gut, daß dem Besitzer Schulze im Jahr 1869 aus dem hannoverschen Kammerkapitalfonds zur Erweiterung des Betriebes ein Kredit von 2 200 Reichstaler gewährt wurde. In den Jahren 1871/72 beschäftigte der Betrieb 80 Arbeitskräfte. Die produzierten Erzeugnisse konnten in der Regel sofort verkauft werden. Im Monat wurden durchschnittlich 1 500 Parketten angefertigt. Die Kunden kamen aus Berlin, Hamburg, Bremen, Hannover, Leipzig, Dresden und sogar aus Montevideo. Der Absatz erfolgte mit Hilfe von 20 Agenten. Das Verlegen des Parketts ist nicht von werkseigenen Arbeitskräften vorgenommen worden. Am 18. Dezember 1878 war das Schicksal der Fabrik besiegelt. In einer kalten Winternacht brach plötzlich Feuer aus, das die Gebäude mit Trockenkammern und Maschinen vernichtete. Außerdem wurden fast alle Rohholzvorräte und Fertigerzeugnisse ein Raub der Flammen. Nur das Wohnhaus blieb erhalten. Der Betrieb mußte eingestellt werden, und damit waren die Beschäftigten arbeitslos.

Der Besitzer Schulze ließ zusammen mit Hausmann auf dem Gelände eine „Dampfbrauerei“ errichten, die ihre Produktion im Jahre 1880 aufnahm (D 3). Die Konkurrenz war in dieser Branche groß, denn in Nordhausen existierten etwa zur gleichen Zeit 17 Bierbrauereien. Trotzdem scheint das Unternehmen von Anfang an von Erfolg gekrönt gewesen zu sein, denn es wurden in den Etatjahren 1882/83  2 791 Reichsmark an Steuern erhoben. Zum Vergleich sei erwähnt, daß an den gesamten Handelsbezirk des königlichen Hauptsteueramtes in Nordhausen 51 000 Reichsmark gezahlt wurden. Obgleich der Umsatz gut war, mußte die Brauerei infolge von Spekulationen im Jahre 1884 Bankrott anmelden.
Danach kaufte Richard Freiherr von Eckardstein-Prötzel aus Berlin das Objekt. In der weiteren Folge wurde der erfahrene Bierbrauer Quintern Direktor des Betriebes. Unter seiner Leitung gab es einen Höhepunkt in der Geschichte der Ilfelder Talbrauerei. Bestes Malz, guter Hopfen, das mineralreiche Harzwasser und Quinterns fachliche Kenntnisse waren die Grundlage für die Erzeugung qualitativ hochwertiger Biere. Der Absatz konnte systematisch erweitert werden. Zunächst eröffnete die Brauerei im Jahre 1884 vor den eigenen Toren den „Ausschank der Freiherr von Eckardsteinischen Ilfelder Talbrauerei“, da man bis zu diesem Zeitpunkt nur in der sog. „Pfennigschenke“ im Objekt an gute Bekannte meist kostenlos aus der „Peitsche“ (5-Liter-Kupferkanne) einen kühlen Trunk verabreichte. In der heute noch existierenden Saisongaststätte wurde in damaliger Zeit ausschließlich Ilfelder Bier ausgeschenkt.
Der Transport zum Verbraucher erfolgte ständig mit drei Pferdegespannen. Zu den wichtigsten Abnehmern zählten Gaststätten und Hotels in Ilfeld und der näheren Umgebung. Obgleich eine starke Konkurrenz durch die Nordhäuser Brauereien gegeben war, konnte der Absatz in Urbach, Sundhausen sowie Uthleben und sogar in Klöppels Bierstuben in Nordhausen gesichert werden. Aber auch in der weiteren Umgebung schenkte man das Bier in Thale, in den Gaststätten am Hexentanzplatz und der Roßtrappe aus.
Von den o. g. Gaststätten möge die „Ilfelder Talbrauerei“ in ihrem weiteren Werdegang verfolgt werden, da ihre jeweiligen Perspektiven eng mit dem heutigen FDGB-Objekt „Ilfelder Tal“ verbunden waren und sind. Nach ihrer Eröffnung im Jahre 1884 trugen die unmittelbare Nachbarschaft zur Brauerei, nahezu unberührte herrliche Harzlandschaft, Nähe zum Ort Ilfeld sowie unmittelbare Randlage zur heutigen F 4 zu einer günstigen Entwicklung bei. Die zahlreichen Gäste hatten beim Wirt offensichtlich eine positive Wirtschaftsbilanz verursacht, denn er ließ im Jahre 1897 einen neuen Saal neben dem Ausschank im Garten erbauen. Darin erhielten die Klosterbrüder (Schüler des heutigen Ilfelder Krankenhauses) ein Klubzimmer, um sich hier regelmäßig treffen zu können. Nach der Einweihung des Saales wurde beim Bau der Harzquerbahn, ähnlich wie am Netzkater, am Fischbachtal eine Haltestelle eingerichtet. In der Folgezeit kamen zahlreiche Gäste z. T. mit Sonderzügen aus Nordhausen und seiner Umgebung, um während und nach dem Besuch der Gaststätte die Harzidylle zu genießen. Mit dem Niedergang bzw. Liquidieren der Brauerei ist offensichtlich auch eine rückläufige Entwicklung der Gaststätte „Talbrauerei“ zu verzeichnen, denn im Jahre 1922 wurde die Haltestelle der Harzquerbahn beseitigt, und heute lassen die jahreszeitlich bedingten Öffnungszeiten der kleinen Privatgaststätte nur noch die große Vorgeschichte des Hauses ahnen.
Nun jedoch zurück zu den Glanzzeiten der Ilfelder Talbrauerei. In dem Maße, wie sich die Brauerei positiv entwickelte, schritt der weitere Ausbau des Objektes voran. Im Jahre 1889 wurden zwei große Eiskeller und ein großer Bierkeller im Werte von 3 400 Reichsmark gebaut. Da es noch keine Kühl- und Gefriermaschinen gab, war es nur mit Hilfe des Eises möglich, das Bier im Sommer kühl und damit über längere Zeiträume zu lagern. Ein besonderer Aufwand war die Füllung der Eiskeller im Winterhalbjahr. Auf allen Teichen der Umgebung wurde das Eis mit Äxten, Beilen und Sägen in große Stücke zerlegt, auf Pferdefuhrwerke verladen und zu den Eiskellern transportiert. Von der heutigen F 4 aus existierte eine Rutsche, von der aus das Eis in den Keller glitt. Um Volumen zu sparen, wurde es in den trockenen Kellern zerschlagen, und dann mit Sägespänen u. a. so gut abgedeckt, das es bis in die Mitte des Sommers aufbewahrt werden konnte.
In Fässern und Flaschen wurden folgende Biere angeboten:

„Ilfelder Perlgold“
„Ilfelder Monopol“
„Ilfelder Talbräu“ und
„Ilfelder Weizenbier“
Außerdem stellte man Selterswasser her. Im Jahre 1898 verkaufte Freiherr von Eckardstein die Talbrauerei an Dr. phil. Fritz Brand, der weitere Verbesserungen am Objekt vornahm.
Zu den 25 - 30 Arbeitskräften, die um die Jahrhundertwende in der Brauerei tätig waren, zählten ein Braumeister, zwei Bierbrauer, zwei Fässerer (ihre Aufgabe bestand darin, das Bier von den großen Lager- in die kleineren Transportfässer umzufüllen) und vier Geschirrführer für Pferdegespanne. Der Inhalt der Transportfässer betrug 8 - 100 Liter. Am gebräuchlichsten waren die sog. „Anker“ mit einem Fassungsvermögen von 40 - 50 Litern.
Ein großer Teil der Belegschaft war in dieser Zeit bereits gewerkschaftlich organisiert. Als im Jahre 1908 der Bierbrauer Dietzel mit der roten Fahne beigesetzt wurde, war dies für Ilfeld ein Novum. Infolge wirtschaftlichen Unvermögens des Direktors Menz schloß die Brauerei im Jahre 1912 ihre Pforten. Zunächst nutzte die Großbrauerei Wolters und Balhorn aus Braunschweig die ehemalige Talbrauerei als Bierniederlage. Gegen Ende des ersten Weltkrieges erwarb der letzte Brauereidirektor das Objekt und baute es zu einem Dampfsägewerk um. In zwei Schichten produzierten 60 - 80 Arbeitskräfte bis zum Konkurs im Jahre 1925 Fischkisten.
Beim anschließenden Verkauf des Objektes erwarb es H. Steinmeyer aus Helmstedt als Pensionshaus für den Beamtenhilfsbund in Hannover. Die Gemeinde Ilfeld kaufte bei dieser Gelegenheit aus der Konkursmasse das Gelände für das heutige Waldbad Ilfeld. Die Inbetriebnahme erfolgte im Jahre 1926 (P 5).
Nachdem Steinmeyer eine Gaststätte eröffnet hatte, erwarb im Jahre 1929 der Hotelier Carl Krull das Grundstück und nannte es „Kurhaus Ilfelder Tal“.
In den dreißiger Jahren wurden die gesetzlichen Bestimmungen für Objektbezeichnungen neu geregelt. Sie sahen vor, daß in einem Kurhaus Kuren verabreicht werden müssen. Da es sich hier nur um normalen Urlauberbetrieb handelte, führte Krull im Jahre 1937 in Übereinstimmung mit dem Namen des nahegelegenen Felsens die Bezeichnung „Hotel Gänseschnabel“ ein. Carl Krull, ein ausgezeichneter Fachmann, brachte die Gaststätte und sein Pensionshaus bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges zur vollen Blüte. Es war kein Exklusivhotel, sondern öffnete seine Pforten vorwiegend für Handwerker, Gewerbetreibende und Angestellte.
Durch Kriegsgeschehen entstand im Jahre 1945 erheblicher Gebäudeschaden. Der Hotel- und Gaststättenbetrieb konnte im Jahre 1946 mit Tanzveranstaltungen und einigen Übernachtungen wieder eröffnet werden. Als Krull im Jahre 1948 starb, übernahm seine Tochter, Frau Sauer, mit ihrem Mann das Objekt. Im Jahre 1974 erwarb der FDGB-Feriendienst das „Hotel Gänseschnabel“ und führte die Bezeichnung „Erholungsheim Ilfelder Tal“ ein. Seitdem werden pro Durchgang 33 Urlauber in 1-, 2-, und 3-Bett-Zimmern betreut. Die modern eingerichtete Gaststätte des Hauses hat ein Fassungsvermögen von max. 100 Personen. Hier werden nicht nur Hausgäste, sondern alle Bürger bedient.

In den Jahren 1982 und 1983 mußte das Objekt geschlossen werden, um umfangreiche Werterhaltungsmaßnahmen und Verbesserungen realisieren zu können. Nach dem Einbau einer zentralen Heizungsanlage, der vollkommenen Erneuerung und Erweiterung der Sanitäranlage, der Verlegung von Grundleitungen, dem Bau einer Kläranlage sowie dem Bau eines Sportraumes öffnete das Erholungsheim im zweiten Halbjahr 1983 wieder seine Pforten zum Empfang von Urlaubern und Gästen. Jetzt ist die Urlauberbetreuung auf ein modernes zeitgemäßes Niveau gebracht und bietet damit alle Voraussetzungen dafür, daß sich die Werktätigen in der Südharzlandschaft gut erholen können.

GPS-Koordinaten
N 51.5941° E 10.7869°

Dokumentennachweis und befragte Personen
 
D 1Die Parquettfußboden-Industrie in Ilfeld.
Manuskript von Herm. Bauersfeld, Ilfeld
D 2Die ehemalige „Ilfelder Thalbrauerei“ im Ilfelder Tal.
Manuskript von Herm. Bauersfeld, Ilfeld

Staatsarchiv Magdeburg
 
A 1Rep A 19 k I, II, Nr. 724 - Anzeige der Bauermeister über Neubauten 1855,
78 Blätter
A 2Rep A 19 k I, II, Nr. 800 - Nachweisung der im Amtsbezirke vorhandenen
Dampfkessel, Anlagen und Dampfmaschinen, 1859, 28 Blätter

Befragte Personen und gesellschaftliche Organisationen
 
P 1Kulturbund Ilfeld, Fachgruppe Heimatgeschichte unter Leitung von L. Lüder
P 2Frau Sauer, Nordhausen, Landgrabenstraße 26
P 3Herm. Hesse, Nordhausen
P 4Walter Liesegang, Ilfeld-Netzkater
P 5Frau E. Bennkenstein, Ilfeld

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