Abhandl. Karst- und Höhlenkde, Heft 34, München 2002 Ralf NIELBOCK Die Einhörner: Am südwestlichen Harzrand befindet sich in der Nähe der Ortschaft Scharzfeld bei Herzberg die Einhornhöhle, ein weithin bekanntes Natur- und Kulturdenkmal. Sie ist mit einer Basis auf der Schichtgrenze zu präpermischen Gesteinen des Harzrumpfgebirges in mittel- bis dickbankigen Werra-Dolomiten des unteren Zechsteins angelegt. Auf der Suche nach dem sagenumwobenen Einhorn war die Höhle jahrhundertelang Anziehungspunkt für Knochensammler, die die oberflächennahen Schichten einer insgesamt 15 - 30 m mächtigen Sedimentfüllung entsprechend "durchwühlten". Es war aber nicht das Unicornu fossile oder gar das Unicornu verum, was man in dieser Höhle fand, obwohl selbst Leibniz 1686 seine dortigen Funde als Reste des Einhorn beschrieb. Heute wissen wir, dass es sich um fossile Knochen des Höhlenbären und einer Vielzahl weiterer eiszeitlicher Tiere handelt. Die Einhornhöhle bietet dabei innerhalb des niedersächsischen Raumes die bislang einmalige Gelegenheit, anhand einer Höhlenfauna vielseitige Auskunft über die hiesige tierische Lebewelt während eines größeren Zeitraumes innerhalb des jüngeren Pleistozäns und zu Beginn des Holozäns zu erhalten. Die Wegbereiter: Erste umfangreiche wissenschaftliche Grabungen führten zwischen 1872 und der folgenden Jahrhundertwende dann nacheinander R.Virchow, C.Struckmann und P. v. Alten "auf der Suche nach dem diluvialen Menschen" durch. Struckmann wies bei Grabungen vor allem in der Blauen Grotte Artefakte und menschliche Knochenreste seit der Zeit des Neolithikums nach. 1905-08 grub die Rudolf-Virchow-Stiftung unter Windhausen und Favreau weiter. Bei allen Grabungen wurden neue Höhlenteile ergraben, so vor allem von v. Alten und später dann von Jacob-Friesen, der 1925/26 einen neuen Gang freilegte. Außer 2 Bärenresten fand er allerdings in dem nach ihm benannten Jacob-Friesen-Gang nichts, auch nicht erhoffte Reste diluvialer Menschen. Erst am Ende des neuen Gangs stieß er im Hangenden auf ein Knochennest einer Glazialfauna mit Schneehase, Vielfrass, Fuchs, Bison und Riesenhirsch. In späterer Zeit wurden 1956-59 unter der Leitung von Meischner, Göttingen, und 1968 von Duphorn, Hannover, kleinere geologisch bzw. paläontologisch orientierte Grabungen vorgenommen. Abb 1:Saigerriss durch die Einhornhöhle mit Lage des Jacob-Friesen-Ganges Die Entdeckung: Erst die neueren Grabungen, vom Autor 1985 durch das Geologische Institut der TU Clausthal an verschiedenen Stellen im "unverritzten" Sediment begonnen, öffneten ein neues Kapitel der Geschichte der Einhornhöhle. Bereits der erste Tag einer kleinen Sondage im Jacob-Friesen-Gang brachte den von vielen früheren Forschern ersehnten Fund ans Tageslicht: Einen Levallois-Kern und ein großer Abschlag aus der Zeit des Neandertalers! Die Kampagne wurde dann gemeinsam u.a. mit dem Institut für UrgeschichteTübingen (Müller-Beck, Hahn, Scheer) und dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover (Veil) fortgesetzt. Über Schichtabfolgen aus der Weichsel bis ins Eem konnte der Aufenthalt des mittelpaläolithischen Menschen in der Einhornhöhle anhand von Werkzeugen und Werkstattabfällen nachgewiesen werden. Die bisherigen Sondagen erlaubten bislang aber nur einen kleinen Einblick in diesen neuen gewichtigen Forschungsbereich der Einhornhöhle. Abb 2: Einhornhöhle: Grundrisszeichnung Jacob-Friesen-Gang Der Saigerriß verdeutlicht eindeutig, dass der Jacob-Friesen-"Gang" in seinem heutigen Erscheinungsbild ein nahezu vollständig mit Sediment verfülltes ehemals über 15 m hohes Höhlen-Eingangsportal ist. Die in den Grabungsstellen 1 und 2 gefundenen Artefakte und auch die Knochen liegen in einem vom Portal in die Höhle sedimentierenden Schuttkegel. Der Aufenthaltsort des Neandertalers wird vorrangig der Abribereich gewesen sein. Im se‘ gelegenen Berghang können wir von Sedimenthöhen von über 15 m ausgehen, in der Höhle wird das Sediment im Jacob-Friesen-Gang bis über 20 m mächtig sein. Bei dieser interdisziplinären Grabungskampagne in den Jahren 1985 bis 88 konnten für die Einhornhöhle bislang insgesamt fast 60 Vertebraten-Arten nachgewiesen werden, wobei erstmals für nahezu alle untersuchten Schichten auch Kleinsäuger und andere kleinere Wirbeltiere belegt wurden. Ergänzt man diese Funde um das Material früherer Grabungen aus den Jahren 1880 bis 1930, so erhöht sich die Vielfalt dieser Höhlenfauna auf bislang über 70 erkannte Arten, darunter über 60 Säugetierarten.
Die Bären: In den Fundinventaren aller Grabungen überwiegen aus den pleistozänen Schichten eindeutig Knochenfunde von Höhlenbären. Ihnen kam immer eine besondere Beachtung zu. Bereits Rode bezog 1935 Funde aus der Einhornhöhle als Ursus spelaeus var. hercynia in seine Bären-Monographie ein, nachdem FAVREAU, WINDHAUSEN und JACOB-FRIESEN schon vorab für die zahlreichen Bärenreste den Artnamen Ursus spelaeus angaben und ihn in die Riß-Würm-Zwischeneiszeit einstuften. Die Bären der Einhornhöhle und eine zugehörige "Begleitfauna" wurden zwischenzeitlich von Schütt (1968) und Sickenberg (1969) als "Ursus deningeri v.Reichenau 1906" in die Cromer-Warmzeit gestellt. Schütt führte biometrische Messungen an Bärenknochen und -zähnen durch. Das ihr für die Auswertung zur Verfügung stehende museale Material war aber nach Fundort und Schichtzuordnung unsortiert. Auch die "zugehörige" Begleitfauna rekrutierte sie aus den vereinzelten Streufunden früherer Fossilaufsammlungen in verschiedenen Teilen der Höhle. Eine Zeitstellung der Bärenfunde in der Einhornhöhle ins Cromer ist nach heutigem Kenntnisstand auszuschließen. Das Schwergewicht der paläontologischen Untersuchungen der Grabungen des Autors lag vor allem in der Bearbeitung der neuen Höhlenbärenfunde, die überwiegend erstmals aus ungestörten Sedimenten und unter einem stratigraphischen Bezug geborgen wurden. Die spezifizierte Auswertung des umfangreichen Bärenmaterials und die Grabungsbefunde ergaben, dass die Bären aus der Einhornhöhle zu einem - wenn auch etwas niedrigen - Stadium der spelaeoiden Evolutionsstufe der Höhlenbären zuzuordnen sind und dem Formenkreis des "Ursus spelaeus Rosenmüller 1793" angehören. Th/U-Datierungen der Bärenschichten zeigen je nach Fundstelle Werte zwischen 40.000 und 170.000 Jahren b.p. an. Diese Datierungsergebnisse heben deutlich hervor, über welch lange Zeiträume hinweg die Höhle von Bärenpopulationen aufgesucht wurde. Die Begleitfaunen des Höhlenbären setzen sich in der Einhornhöhle deshalb je nach Schichtzugehörigkeit und damit auch geologischem Alter unterschiedlich zusammen. Zu bedenken ist allerdings, dass allgemein Höhlenfaunen durch verschiedenartige Selektion nur bestimmte Tierarten der jeweiligen Zeitphasen enthalten, das natürliche Artenspektrum somit nicht vollzählig ist. Zudem ist der überwiegende Anteil der Bärenknochen und auch der anderen Tiere innerhalb der Höhle umgelagert und durch Sedimentfließen eingeregelt. Skelettzusammenhänge wurden nirgends beobachtet. Die Bergung von 4 Schädeln und einem kompletten Unterkiefer mit allen Zähnen bei dieser Grabungskampagne ist deshalb für Einhornhöhlen-Funde die Ausnahme. Anzumerken ist auch, dass speziell in den Grabungsstellen im Jacob-Friesen-Gang mit einer hohen Funddichte an Knochenmaterial und Artefakten es bislang keine Befundlage gab, die auf ein Einwirken des über lange Zeiträume zeitgleich, aber vielleicht nicht gleichzeitig, auch in der Höhle anwesenden Neandertalers auf den Höhlenbären oder seine Knochenreste hindeutet. Abb 5: Einhornhöhle/Harz, Ursus spelaeus Rosenmüller&Heinroth, 1793: kompletter Unterkiefer mit allen Zähnen; Schrägaufsicht, L = 28 cm. Sondage Leibnizhalle 1985, Weichsel-zeitlich. Verbleib: Ausstellung Museum im Ritterhaus, Osterode am Harz.
Die Bären der Einhornhöhle waren schon immer in die Diskussion im Vergleich zu anderen Bärenpopulationen einbezogen worden. Ausgehend von den früheren Fundinventaren überwog zunächst die Einstufung auf einem niedrigen Entwicklungsniveaus der Höhlenbären. Die Auswertung der neuen Funde, hier speziell der Oberschädel, der Unterkiefer und der Zähne, zeigt allerdings, dass es keinen typischen Einhornhöhlen-Bären gibt. Gerade die metrischen Werte und die Morphologie der Zähne weist eine große Streuung auf. Für absolute Aussagen reicht die bisherige Fundmenge noch nicht aus. Es zeigen sich aber Tendenzen in Bezug auf die Fundstellen und damit die Zeitstellung der Funde ab: Der Evolutionsstand der Bären aus dem Jacob-Friesen-Gang grenzt sich von den Funden in der Haupthöhle ab. Die Sedimente: Alle bisherigen Funde stammen nur aus den maximal oberen zwei Metern Sediment einer, wie Peilstangen- und Kernbohrung ergaben, bis zu 30 m mächtigen Lockergestein-Höhlenfüllung. Durch diese Bohrungen wurden die Dimensionen der Einhornhöhle und ihres potentiellen Fossilreichtums erst erkennbar, weisen doch zudem alle bislang ergrabenen Schichten bereits ein recht hohes Fossilaufkommen auf. In den oberen Sedimentschichten haben wir - zumindest im sw‘ Bereich der Höhle inklusive des Jacob-Friesen-Ganges - eine kontinuierliche Schichtenabfolge von der "Coladose bis zum Faustkeil". Die tiefsten bislang ergrabenen fossilführenden Schichten im Jacob-Friesen-Gang und im Weissen Saal zeigen eine Zeitstellung ins Eem an. Darunter befinden sich über 5 m mächtige sterile Hercyn-Schotter (früher auch als Flußkiese eines Höhlenflusses bezeichnet), die wahrscheinlich ins Saale-Glazial einzustufen sind. Zum heutigen Zeitpunkt sind allerdings noch keinerlei Aussagen über Alter, Fauna und auch mögliche archäologische Befunde der darunterliegenden tieferen Sedimentschichten zu treffen. Für den Jacob-Friesen-Gang ergibt sich folgendes Profil (vom Hangenden ins Liegende):
Die Perspektive: Jahrhundertelang war die Höhle im Südharz ein ergiebiger Fundplatz des begehrten Einhorns. Obwohl die Quelle der Knochenfunde bislang nicht versiegte, galt bis 1985 die Erforschung der Höhle als abgeschlossen. Aufgrund des sich nunmehr herauskristallisierenden Gesamteindrucks von Zeit und Raum können wir jetzt sagen, wir stehen erst am Anfang einer großen interdisziplinären wissenschaftlichen Erschließung des Geotops Einhornhöhle. Unter dem Arbeitstitel "Projekt Mensch und Tier in der Einhornhöhle" soll ab 2002 neben der geotouristischen Neuerschließung des Schauhöhlenbetriebes im neu gegründeten Geopark Harz die weitere Erforschung der Höhle vorangetrieben werden. Zu diesem Zweck wurde auch der Forschungsverein "Gesellschaft Unicornu fossile e.V." gegründet. In einem Vorprojekt soll der Forschungsstand erfasst werden und die Struktur vor Ort für die weitere Forschung geschaffen werden. Die Zielsetzung ist eine drei-gegliederte wissenschaftliche Forschungskampagne:
Literatur (Auswahl): Jacob-Friesen, K.-H. (1926): Die Einhornhöhle bei Scharzfeld, Kreis Osterode a. Harz. - Führer zu urgeschichtlichen Fundstätten Niedersachsens, Nr.2: 34 S., 10 Abb.; Hannover. Nielbock, R. (1987): Holozäne und jungpleistozäne Wirbeltierfaunen der Einhornhöhle/Harz. - Dissertation TU Clausthal: 194 S., 121 Abb., 21 Tab.; Clausthal. Nielbock, R. (1989): Die Tierknochenfunde der Ausgrabungen 1987/88 in der Einhornhöhle bei Scharzfeld. - Archäologisches Korrespondenzblatt 19: 217-23O; Mainz. Nielbock, R. (1990): Die Einhornhöhle - ein quartärwissenschaftliches Kleinod im Südharz. - Mitteilungen Verband deutscher Höhlen- & Karstforscher 36(2): 24-27; München. Nielbock, R. (1994): a) Quartärfaunen am südwestlichen Harzrand. b) Bibliographie zur Quartär-Paläozoologie des südwestlichen Harzrandes. - Die Kunde, NF 45: S. 191-220, 16 Abb.; Hannover. Meischner, D. (2001): Bericht über Grabungen in der Einhornhöhle bei Scharzfeld im Harz. - Mitteilungen des Verbandes der deutschen Höhlen- und Karstforscher, 47 (1): 4-7, München. Scheer, A. (1986): Mittelpaläolithische Funde in der Einhornhöhle bei Scharzfeld (Stadt Herzberg am Harz, Ldkr. Osterode am Harz). - Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 55: 1-39, 13 Abb.; Hildesheim. Veil, St. (1989): Die archäologisch-geowissenschaftlichen Ausgrabungen 1987/88 in der Einhornhöhle bei Scharzfeld, Ldkr. Osterode am Harz. - Archäologisches Korrespondenzblatt 19: 203-216, 2 Taf.; Mainz. Vladi, F. (1984): Führer durch die Einhornhöhle bei Scharzfeld. - 39S., 8 Abb., 1 Tab.; Herzberg. |