LESEPROBE

Roland Lange
Der Nachfahre
Ein Leben im Schatten des Lichtensteins

Vorwort

Als im Jahre 1980 in der Lichtensteinhöhle bei Osterode - Dorste zahlreiche Menschenknochen entdeckt wurden, ahnte noch niemand, dass dieser fast 3000 Jahre alte Fund aus der späten Bronzezeit einst eine weltweite Bedeutung für die archäologische und anthropologische Forschung erlangen sollte. Die zwischen 1993 und 2007 von der Archäologischen Denkmalpflege des Landkreises Osterode am Harz durchgeführten Ausgrabungen ergaben, dass es sich bei den Menschenknochen entgegen den ursprünglichen Vermutungen nicht um die Reste grausamer Opferriten handelt, sondern um den Bestattungsplatz eines gesellschaftlich wohl führenden Familienclans aus der näheren Umgebung der Höhle. Die in den extrem engen Kammern der Lichtensteinhöhle entdeckten Bronzegegenstände und Tongefäße, aber auch die zahlreich erhalten gebliebenen Überreste der Bestattungsrituale zeigen, dass die Menschen einst enge kulturelle Beziehungen zum nördlichen Thüringen unterhielten.
War die Entdeckung der über fast drei Jahrtausende hinweg unversehrt erhalten gebliebenen Bestattungshöhle schon eine Sensation für die Archäologie, macht die überdurchschnittlich gut erhaltene DNA in den Menschenknochen die Lichtensteinhöhle auch zu einem weltbedeutenden Fundort für die Anthropologie. Allen voran der Anthropologin Susanne Hummel und ihren Kollegen Felix Schilz und Tobias Schultes vom Anthropologischen Institut der Universität Göttingen gelang es in den letzten Jahren, für fast alle Menschen aus der Lichtensteinhöhle den individuellen genetischen Fingerabdruck sowie die väterliche und mütterliche Familienlinie zu ermitteln.
24 der insgesamt 40 Toten aus der Lichtensteinhöhle waren direkt miteinander verwandt und repräsentieren heute nicht nur den weltweit größten menschlichen Genpool aus der Bronzezeit, sondern auch die älteste auf molekulargenetischem Weg identifizierte Großfamilie der Welt.
Besonders spannend war für die beteiligten Wissenschaftler die Frage, ob noch heute Nachfahren der „Lichtensteiner“ in der Region um die Lichtensteinhöhle leben. Ein groß angelegter DNA-Speicheltest mit fast 300 Teilnehmern brachte dann die nächste Sensation: Nach mehr als 100 Generationen wurden noch zwei Männer – Manfred Huchthausen und Uwe Lange – gefunden, deren genetisches Muster mit einer der Erblinien aus der Lichtensteinhöhle weitestgehend übereinstimmte. Sie haben heute den längsten genetisch belegten Familienstammbaum der Welt...
 

Stefan Flindt
Archäologe des Landkreises Osterode am Harz
 

Die Lichtensteinhöhle

Der Brief

Da lag er vor mir, der Brief.
Ich hatte schon lange mit seinem Eintreffen gerechnet. Es war ein unscheinbares Kuvert, das ebenso eine Aufforderung zur Steuernachzahlung, einen Bußgeldbescheid oder Schlimmeres enthalten könnte.
Manche verdrängen den möglichen Inhalt solch eines Schreibens und dessen Folgen einfach aus ihren Gedanken. Andere wiederum versuchen, sich darauf vorzubereiten und alle Möglichkeiten durchzuspielen, in der Hoffnung, besser mit den Konsequenzen klarzukommen und sind dann doch überrascht, vielleicht sogar fassungslos, wenn sie den Brief tatsächlich lesen.
So war es mir ergangen. Ich wusste, das Schreiben würde kommen. Eines Tages. Und ich wusste, welche Nachricht es enthalten würde. Zumindest glaubte ich, es zu wissen. Viele Varianten gab es ja nicht. Im Grunde nur diese zwei: „Ja“ und „Nein“. Ich hatte mich innerlich auf das „Nein“ vorbereitet, hatte die Möglichkeit eines positiven Bescheides erst gar nicht in Betracht gezogen, weil er mir unwahrscheinlicher erschien, als ein Millionengewinn im Lotto. An Spekulationen, wie sie seit geraumer Zeit im Dorf kursierten, hatte ich mich daher auch gar nicht beteiligt. Das war nicht meine Art und die ganze Diskussion empfand ich ohnehin als skurril.
Jetzt lag das erwartete Schreiben des Instituts für Zoologie und Anthropologie der Universität Göttingen auf unserem Küchentisch und ich versuchte zum wiederholten Mal, mir die Bedeutung dieses einen Satzes vor Augen zu führen:
„Daher sind Sie einer der beiden Männer der Studie, die mit größter Wahrscheinlichkeit Nachfahren zweier Männer (M1 und M2) aus der Lichtensteinhöhle sind.“
Ich hatte das Schreiben geöffnet und zunächst nur oberflächlich gelesen, hatte den Inhalt wie ein Scanner erfasst, ohne ihn zu verarbeiten. Die Informationen, die mir auf mehreren Seiten entgegen geflutet waren, hatte ich nicht sofort verstanden. Vor allen Dingen konnte und wollte ich nicht begreifen, was das alles mit mir zu tun haben sollte, obwohl es dort schwarz auf weiß geschrieben stand, ausführlich und wissenschaftlich begründet.
Ich hatte den Brief weggelegt und versucht, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen.
Nichts war geschehen. Alles war wie immer. Lediglich ein Schriftstück lag auf dem Küchentisch, das mich nicht mit Namen ansprach, sondern mit der Anrede „Lieber Teilnehmer“ begann. Unpersönlich, nüchtern, kalt.
„Lieber Teilnehmer“, damit waren auch andere Adressaten gemeint. Ich war einer davon. Einer von fast dreihundert! Warum sollte ich mich verrückt machen? Ich war freiwilliger Teilnehmer einer Studie gewesen und hatte als eben jener Teilnehmer einen Bescheid präsentiert bekommen. Das war zu erwarten gewesen. Jedoch nicht, dass das Schicksal ausgerechnet mich auserkoren hatte. War das jetzt ein Grund, die Fassung zu verlieren? Sicher nicht!
Ich war immer noch derselbe und würde es auch nach diesem Brief bleiben, oder …?
„ … einer der beiden Männer, die Nachfahren der zwei Männer aus der Lichtensteinhöhle sind.“
„Wir sind alle Nachfahren“, hatte Susanne Hummel einmal gesagt. Frau Dr. Hummel war jene Wissenschaftlerin, die die Studie betreut und das Schreiben an mich gesandt hatte. „Jeder Mensch stammt von den Menschen der Bronzezeit ab, wie auch von den Steinzeitmenschen …“
„ … und wie von Adam und Eva“, hatte ich die Zeitreise gedanklich vervollständigt.
Das klang fast ein wenig, wie der berühmte Satz:
„Alle Menschen sind gleich.“
Dummerweise gibt es da immer noch diejenigen, die ein wenig gleicher als gleich sind. Mit der Nachricht vom Göttinger Institut hatte ich es nun schriftlich, dass ich wohl zu den beiden Menschen gehöre, die aus diesem Meer von Gleichen herausragen. Ich bin nicht nur gleicher als gleich, ich bin etwas Besonderes. Eine Rarität, eine Sensation. Verdammt, was hatte das alles zu bedeuten? Was würde da auf mich zukommen? Auf was hatte ich mich eingelassen?
Eine banale Speichelprobe hatte genügt, ein kurzer Abstrich mit einem Wattestäbchen aus meiner Mundhöhle. Schon konnten sie meine Herkunft über drei Jahrtausende zurück verfolgen. Hin zu ein paar Skeletten aus der Bronzezeit.
Die Skelett-DNA und meine Speichel-DNA, das passte zusammen.
Einige von denen, die da in der Höhle unter dem Lichtenstein gelegen hatten, gehören zu meiner Sippe. Mit denen bin ich verwandt! Das muss man sich einmal vorstellen! Und ebenso muss ich dann ja auf verschlungenen Wegen auch mit dem Menschen verwandt sein, der als zweiter Nachfahre identifiziert worden war, und den ich bisher nicht kannte. Einfach absurd. Es wollte nicht in meinen Kopf, es war alles so unwirklich!
Hätte ich den Aufruf zur Speichelentnahme im Januar 2007 einfach ignoriert, wäre ich genau an jenem Tag krank gewesen oder verreist oder sonst irgendwie unabkömmlich – niemand hätte meinen Speichel jemals für eine DNAAnalyse zur Verfügung gehabt. Niemand hätte davon erfahren, dass ich ein direkter Nachfahre dieser Bronzezeit-Menschen bin, deren Gebeine über dreitausend Jahre hinweg im Gipsgestein der Höhle überdauert hatten, so gut erhalten, dass sie den Anthropologen und Archäologen wie ein offenes Buch erschienen waren, das zu lesen schon spannend genug gewesen sein muss.
Aber das war ihnen nicht genug gewesen. Sie hatten eine Fortsetzung der Story haben wollen. Mit meinem Speicheltropfen hatte ich sie ihnen geliefert. Und jetzt sollte ich also ganz allein hinausgehen auf die große Bühne namens Öffentlichkeit. Ich sollte ins Rampenlicht treten und mich einem Publikum präsentieren, das eine Sensation erwartete.
Was sollte ich tun? Was sagen? Wie mich bewegen? Ich hatte keine Ahnung! Würden Sie mich anstarren, mich mit ihren Augen abtasten, mich sezieren und genauestens untersuchen? Meine Fantasie gaukelte mir Szenen aus Filmen wie „King-Kong“ vor und ließ mich unwillkürlich schaudern.
Ich wusste nicht, wie ich es durchstehen sollte. Ich war völlig unvorbereitet in etwas hineingeschlittert, das nicht rückgängig gemacht werden konnte. Für mich gab es keine andere Möglichkeit, als es offensiv anzugehen. Ich musste mich der Situation stellen. Ich musste mich mit meiner Gegenwart, meiner Vergangenheit und Zukunft auseinandersetzen.


Der Leichenschmaus zog sich den ganzen Nachmittag hin. Erst als die Sonne schon sehr tief im Westen stand und die Hütekinder die Ziegen und Schafe durch das Tor im Schutzwall und zurück zu ihren Ställen führten, kamen auch die ersten Teilnehmer an der Feier aus dem Haus des Clanfürsten. Nicht mehr ganz sicheren Schrittes wankten einige von ihnen durch die ausgetretenen und ausgefahrenen Wege in der Siedlung, welche die Langhäuser, Werkstätten, Tierpferche und Ställe miteinander verbanden.
Gerade noch sahen die Kinder den Radmacher, einen der ehrenwertesten Männer der Siedlung, wie er sich aus der Zisterne in der Mitte des Siedlungsplatzes einen Eimer des brackigen Wassers herausschöpfte, um ihn sich gleich darauf über den Kopf zu schütten. Die Hütekinder verharrten einen Augenblick, kicherten und warfen sich ahnungsvolle Blicke und spöttische Bemerkungen zu, ehe sie den Tieren nachliefen, die ihnen bereits in die Ställe vorausgeeilt waren. Trotz ihres jungen Lebens und ohne selbst schon Erfahrungen gemacht zu haben, wussten die Kinder doch um die verheerenden Wirkungen mancher Trünke, die, von den Priestern gebraut, zu allen festlichen Anlässen gereicht wurden. Zu oft schon hatten sie besonders die Männer der Siedlung gesehen, wie sie sich nach übermäßigem Genuss der Priester-Trünke zu seltsamen Reden und Handlungen hatten hinreißen lassen.
Zu derart gedankenlosen Handlungen gehörte sicher auch die Verschwendung des fauligen Zisternenwassers, nur um sich den vernebelten Kopf zu kühlen. Bei klarem Verstand hätte der Radmacher natürlich um den hohen Wert des Wassers gewusst, der noch höher einzuschätzen war, wenn man bedachte, wie lange schon kein Regen gefallen war und welche Mühsal es bereiten würde, in Zeiten der Trockenheit neues trinkbares Wasser aus dem Tal heraufzuholen, das allein der Fluss Susia mit sich führte. Alle anderen Rinnsale, Bäche, Tümpel und Wasserlöcher lagen in der undurchdringlichen Wildnis des westlichen Tales und wurden zum großen Teil aus den salzhaltigen Quellen gespeist, deren Wasser nicht zu genießen war.
Aber über solches Erwachsenenverhalten mochten sich die Kinder der Siedlung keine Gedanken machen. Sie hatten ganz andere Sorgen. So fragten sich besonders die größeren und kräftigeren unter den jungen Kerlen, wem von ihnen es vergönnt sein würde, Urs, den Bären zu erlegen und sich mit dieser Heldentat die Anerkennung des gesamten Clans zu sichern.
Der zottelige Riese bestimmte ihren Tagesablauf und obwohl ihn noch niemals jemand, weder Jung noch Alt, zu Gesicht bekommen hatte, war er doch allgegenwärtig im Denken und Reden der Jungen.
„Soll es nur kommen, das braune Ungeheuer. Ich werde es draußen auf den Weiden erwarten, wenn es versuchen will, meine Ziegen zu fressen. Ich werde Urs töten!“
So prahlten sie, wenn sie wieder einmal zum Hüten der Tiere eingeteilt waren. Sie machten sich Mut mit ihren großspurigen Reden und gleichzeitig schlich ihnen die Angst vor einer solch schicksalhaften Begegnung durch Mark und Bein. Aber das vor den anderen Jungen, oder gar den Mädchen zuzugeben, wäre eine fürchterliche Schande gewesen, die schlimmer wog als die Aussicht, von den Pranken des Bären, der sich in ihrer Fantasie zum riesenhaften Ungeheuers entwickelt hatte, zerfetzt zu werden.
Also würden sie erhobenen Hauptes und mit festem, mutigem Blick die Ziegen und Schafe zu den Weiden treiben, ihre Bögen und Speere mit sich nehmen und draußen vor dem schützenden Siedlungswall, wenn sie allein waren, mit schlotternden Knien hoffen, dass Urs, der Menschentöter, ein Einsehen hatte und sich eines späteren Tages seine Beute holte, wenn sie nicht mit Ziegenhüten beauftragt waren, sondern im Schutz der Siedlung anderen Aufgaben nachgingen.

Agilatrud fand Gisil an seinem Lieblingsplatz. Kurz, nachdem der letzte Gast das Langhaus des Clanfürsten verlassen hatte, war auch er hinausgegangen. Im Schutzwall gab es noch zwei weitere Öffnungen, die schmaler und niedriger waren, als das Haupttor. Es waren mehr Schlupflöcher denn richtige Tore, gerade breit genug, um zwei Personen nebeneinander Durchlass zu gewähren.
Eins dieser beiden Löcher führte nach Norden hinaus auf den Bergsporn, eine schmale Grasebene, die nur wenige Schritte vom Wall entfernt endete und abrupt in steil abfallenden, bewaldeten Hängen mündete. Von dieser Ebene aus hatte man einen großartigen Überblick über das gesamte Tal, das sich, beginnend im Osten, am Fuße des Höhenzuges nach Norden hin ausdehnte, sich dort breitflächig um den Bergsporn herumzog und sich an seiner Westflanke bis zum Lichtstein und darüber hinaus westlich des heiligen Berges entlang sogar noch nach Süden hin erstreckte.
Diesem einmaligen Ausblick verdankten Gisil und sein Clan ihren Wohlstand.
Von hier oben war es möglich, den Handelsweg, der im Tal in Nord-Süd-Richtung verlief, zu kontrollieren. Nichts entging den Beobachtern auf dem Bergsporn. Ob Mensch oder Tier, ihre scharfen Augen entdeckten alles Kommen und Gehen auf dem Weg. Besonders die Händler mit ihren menschlichen Lastenträgern oder den mit Waren voll gepackten Lasttieren im Gefolge kamen nur langsam voran und blieben lange Zeit im Blickfeld ihrer Beobachter.
Kein Händler konnte erwarten, ungesehen an der Höhensiedlung vorbei zu kommen. Erst wenn sie ihren Wegezoll entrichtet hatten, durften sie zu den nördlichen Handelsplätzen weiterziehen. So kamen mehr Waren in die Höhensiedlung, als im Tausch dafür wieder herausgegeben wurden. Doch kein Händler versuchte, dieser Prozedur zu entgehen und den fälligen Obolus zu verweigern. Im Gegenteil, sie nutzten den eingeplanten Halt nicht nur dazu, sich die Weiterreise zu erkaufen, sondern sie nahmen die Gelegenheit wahr, darüber hinaus in der Siedlung auf dem Berg zu verweilen und ihre Geschäfte zu machen.
Für manche Händler war die Siedlung sogar der Endpunkt ihrer Reise. Hierher kamen sie, um nach erfolgreichen Geschäften wieder zurück in den Norden oder Süden, in den Westen oder Osten zu ziehen. Schmuck gegen Leinen oder tönernes Geschirr, Bronzebarren gegen Salz, Werkzeuge und Waffen – die Siedlung war wahrhaftig ein guter Platz, um Handel zu treiben und Neuigkeiten auszutauschen.


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Text: Roland Lange
© Illustrationen: Ferdinand Leja
Alle Rechte vorbehalten.
Verlag Jörg Mitzkat
Holzminden, 2008

Druck: Lönneker, Stadtoldendorf
ISBN 978-3-940751-10-2

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