Was geschah bei Petershütte?
Die „Entsorgung“ der giftigen Abwässer der Sprengstofffabrik „Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld

Dr. Friedhart Knolle, Dr. Michael Braedt, Hansjörg Hörseljau und Frank Jacobs

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen die ersten Planungen für einen massiven Ausbau der Spreng- und Kampfstoffproduktion in Deutschland. Der rechtlich-organisatorische Aufbau und das Zusammenspiel von Großindustrie und militärischer Führung wurde dafür geschickt verschleiert („Rüstungsviereck“).

Im Auftrag des Oberkommandos des Heeres (OKH) plante und erbaute die Dynamit-Actien-Gesellschaft vormals Alfred Nobel & Co. (D.A.G.) aus Troisdorf die vom OKH gewünschten Sprengstoffwerke, darunter Hessisch-Lichtenau, Stadtallendorf, Clausthal u.a. Die D.A.G. wiederum war eine 61 %ige Tochter des I.G. Farben-Konzerns. Die Sprengstoffwerke wurden schlüsselfertig der MONTAN übertragen. Die MONTAN ihrerseits war 1916 als „Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH“ gegründet worden. 1934 übernahmen Beauftragte des OKH diesen Firmenmantel. Als Gesellschafter der MONTAN fungierten zunächst als Privatpersonen auftretende höhere Beamte des Heereswaffenamts, später des Wehrmachtsfiskus und seit 1944 des Reichsfiskus. Die MONTAN verpachtete die Rüstungsbetriebe an die „Gesellschaft mbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse“ (Verwert-Chemie), eine 100 %ige Tochter der D.A.G. Ein Großteil der Produktionsgewinne, abzüglich der gering gehaltenen Pachtzahlungen an die MONTAN, floss somit der D.A.G. zu.

Die von außen fast undurchschaubare Konstruktion des Rüstungsvierecks, in der Auftraggeber und Betreiber unter verschiedenen Namen auftauchten, hat neben der schon damals geplanten Verschleierungsabsicht bis heute immense rechtliche Auswirkungen. Die Verwert-Chemie wurde 1951 liquidiert, somit ist der Verursacher im engeren Sinne für die Auspressung der ZwangsarbeiterInnen in den Sprengstoffwerken und für die entstandenen Umweltschäden rechtlich nicht mehr existent. Die damalige Muttergesellschaft, die spätere Dynamit Nobel AG, gehörte bis 2004 wieder zu den größten Munitionsproduzenten der Bundesrepublik. Das Unternehmen wurde 2004 durch den ehemaligen Mutterkonzern MG technologies (heute GEA Group AG) zerschlagen und verkauft. Den größten Teil der vormaligen Dynamit Nobel-Unternehmen führt die amerikanische Rockwood Inc.

Rechtsidentische Nachfolgerin der MONTAN ist dagegen die früher mehrheitlich im Bundesbesitz befindliche, spätere Industrie-Verwaltungsgesellschaft-Holding-Aktiengesellschaft (IVG Holding AG), heute IVG Immobilien AG (www.ivg.de) mit Sitz in Bonn.

Standortwahl und Aufbau von „Werk Tanne“

Die ehemalige Sprengstoffabrik Clausthal, mit ihrem Tarnnamen auch als „Werk Tanne“ bezeichnet, liegt am östlichen Ortsrand der Oberharzer Bergstadt Clausthal-Zellerfeld in Niedersachsen (Landkreis Goslar). Das Werksgelände ist zum größten Teil bewaldet und befindet sich im Besitz der IVG. Ein Teil des Geländes war bis 1993 an die Bundeswehr verpachtet. Der Großteil der Fläche ist jedoch wegen des dort vorhandenen Gefährdungspotenzials nicht frei zugänglich – die Kriegsgräbergedenkstätte „Russenfriedhof“ erinnert an das hier Geschehene.

Anfang des Jahres 1934 hielten Vertreter der D.A.G. im Oberharz Ausschau nach einem geeigneten Gelände für eine „Tri-Fabrik“ („Tri“ = Trinitrotoluol) und eine Infanterie-Munitionsfabrik. Dabei wurden sie auf dem Hochplateau zwischen Clausthal und Altenau fündig, wo alle erforderlichen Rahmenbedingungen wie Verkehrsanbindungen, Strom- und Wasserversorgung, Tarnung u.a. erfüllt waren.

Ende 1936 war die Sprengstoffabrik in ihren Grundzügen bereits fertiggestellt. Wie viele der Schwesterwerke, so z.B. in Hessisch-Lichtenau, war auch Werk Tanne ein sog. „Schlafwerk“, das nach seiner Fertigstellung zunächst „eingemottet“ wurde, um erst in Krisenfällen bzw. im Zuge akuter werdender Kriegsvorbereitungen in Betrieb genommen zu werden.

Angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden Aggressionsabsichten Hitler-Deutschlands gegenüber seinen Nachbarländern wurde der „Schläfer“ Werk Tanne Anfang 1938 geweckt und weiter ausgebaut. Anfang 1939 bestand fast jede Werksabteilung doppelt, um Produktionsausfälle möglichst zu vermeiden – sei es durch Betriebsstörungen, Sabotage oder Kriegseinwirkung.

In der Sprengstoffabrik Tanne wurde der Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) hergestellt, aber es wurden auch TNT und andere angelieferte Sprengstoffe in Bomben, Minen und Granaten abgefüllt. Ein wichtiger dritter Bereich war die Sprengstoffaufbereitung aus Fehlchargen und Beutemunition. Im Geschäftsjahr 1943/44 erreicht die Sprengstoffproduktion und -verarbeitung ihren Höhepunkt mit knapp 28.000 t produziertem TNT und über 20.000 t verarbeiteten Sprengstoff. Sie geht dann aber laut dem letztem Betriebsbericht von 1944/45 – sicherlich bedingt durch die Bombardierung im Oktober 1944 und den allgemeinen Rohstoffmangel – wieder deutlich zurück.


Abb. 1: Abwasserentsorgungslösungen von 1939 bis 1945 (aus BRAEDT et al. 2004)

Zu den vielfältigen Bemühungen um geeignete „Entsorgungspfade“

Als besonderes Problem erwies sich die Entsorgung des bei der TNT-Produktion und der Schwefelsäureaufkonzentration anfallenden Abwassers. Dies führte in der Planungsphase sowie während des Betriebes der unterschiedlichen Entsorgungs„lösungen“ zu umfangreichem Schriftverkehr mit den zuständigen Behörden.

Ursprünglich war geplant, die mit gelöschtem Kalk nur unzureichend neutralisierten Abwässer durch Sickerschächte direkt auf dem Werksgelände zu entsorgen, was aber aufgrund der geologischen Situation nicht durchführbar war. Da die aggressiven Abwässer zudem auch Schäden an der Großvegetation anrichteten, war die für das Werk überaus wichtige natürliche Tarnung gefährdet.

Daraufhin wurde geplant, die mit 300 m³ täglich angenommene Abwassermenge zusammen mit den häuslichen Abwässern in einem nördlich des Werksgeländes im Jagen 32 gelegenen Gelände zwischen dem Großen und dem Kleinen Mönchstal in den Untergrund zu versenken.

Die mit der Begutachtung beauftragte Landesanstalt für Boden-, Wasser- und Lufthygiene brachte gegen diese geplante Abwasserbeseitigung keine Bedenken vor. Zu diesem Zeitpunkt wurde noch davon ausgegangen, dass die Fabrikabwässer „klar“ und nur „schwach rosa gefärbt“ sein würden und infolge der Kalkzugabe nur noch schwach sauer wären. Ein weiteres Gutachten der Landesanstalt vom 11.11.1937, das nach Besichtigung der zwischenzeitlich fertiggestellten Abwasserbeseitigungsanlage des Werks erstellt wurde, kam aber dann zu dem Schluss, dass „eine nach den gegebenen örtlichen Verhältnissen praktisch in Betracht kommende bessere Beseitigung der Abwässer nicht möglich ist“. Ausgangspunkt war zu diesem Zeitpunkt bereits eine tägliche Abwassermenge von ca. 400 m³.

Als im Januar des Jahres 1939 versucht wurde, die Abwässer in drei flachgründigen Schachtbrunnen im Mönchstal zu versickern, traten die Abwässer aber bereits kurz unterhalb des Großen Mönchstals wieder zutage, da der Untergrund nicht aufnahmefähig war. Bei den Probeläufen fielen bereits monatlich 12.000 m³ Abwasser an. Die wieder ausgetretenen Abwässer flossen wahrscheinlich über die Bäche Langes Wasser und Weißes Wasser in die Oker. Da zu diesem Zeitpunkt die Okertalsperre bereits im Bau war und man mit einer Verunreinigung sowohl des Einzugsgebietes als auch der Oker selbst rechnen musste, wurde die Versickerung umgehend wieder eingestellt. Die Verunreinigungen der Vorfluter hätten zu größeren Schäden in den Hüttenwerken der Preußischen Bergwerks und Hütten-A.G. in Oker führen können. Eine daraufhin erwogene Abwasserableitung durch den Ernst-August-Stollen oder den Tiefen-Georg-Stollen kam durch Einsprüche der Preussag ebenfalls nicht zur Ausführung.

Dadurch kam das Werk Tanne in eine prekäre Situation, denn es war geplant, die Fabrikation unbedingt zu Anfang März aufzunehmen. Im März 1939 wurde daher von der Preussag kurzfristig unter Auflagen der nördlich des Werkes gelegene Lange-Teich als Speicherbecken zur Verfügung gestellt und über eine ca. 2,5 km lange Rohrleitung mit dem Werk verbunden. Da die Kapazität des Lange-Teiches nicht ausreichte, wurde im Mai von der Preussag zusätzlich der westlich des Werksgeländes gelegene Polstertaler Teich als zweites Speicherbecken zur Verfügung gestellt und ebenfalls über eine ca. 2,5 km lange Rohrleitung mit dem Werk verbunden.

Obwohl am 1.4.1939 offizieller Produktionsbeginn von Werk Tanne war, konnte der Vollbetrieb erst im Juni des Jahres anlaufen. Die bis dahin beim Probebetrieb entstandenen Abwässer waren aber nicht „schwach rosa“, sondern „dunkelbraunrot“ gefärbt und fielen in einer Menge von 1.500 m³ pro Tag an. Die intensiv rotgefärbten Abwässer von Trinitrotoluolfabriken waren nach Aussagen von Fachleuten die „widerwärtigsten Abwässer der chemischen Industrie“.

Da aber das Werk nicht stillgelegt werden durfte und das Aufnahmevermögen der beiden als Speicherbecken fungierenden Preussag-Teiche nur für kurze Zeit ausreichte, musste schnell ein Ausweg gefunden werden. Als einzig praktikable Lösung wurde eine Einleitung der Abwässer in einen Vorfluter mit ausreichender Wasserführung angesehen. Eine Einspeisung in die Innerste schied aus, da eine Verbindung mit den Karstquellen von Alt Wallmoden und Baddeckenstedt vermutet wurde, die von den Reichswerken Hermann Göring zur Trinkwasserversorgung des Salzgittergebiets genutzt wurden. Auch eine Einleitung in die Oker war wegen der zu erwartenden Beeinträchtigungen der Hüttenwerke in Oker nicht möglich. Somit kam nur eine Ableitung über die Söse in den Südharz in Betracht.


Abb. 2: Abwasserentsorgung über die Kleine und Große Bremke in den Südharz,
innere Grafik: enviro M Umweltbüro Dr. Marose

Auf Empfehlung des Regierungsgeologen Prof. Fritz Dahlgrün, der nach dem Krieg als Mitglied der Akademie für Berg- und Hüttenwesen der Bergakademie Clausthal angehörte, wurde im August 1939 eine 9 km lange Abwasserleitung in Betrieb genommen. Im Ortsbereich von Osterode-Petershütte wurde die Große Bremke auf einer Länge von 480 m kanalisiert und mit schweren Betonplatten abgedeckt. Nach Einmündung der Großen Bremke in die Söse flossen die Abwässer weiter über die Rhume in die Leine. Da „die Söse durch ein Versickerungsgebiet fließt und die Gefahr einer Verunreinigung der Brunnen der Gemeinde Förste (Kreis Osterode) zu befürchten war“, wurde die Gemeinde Förste vorsorglich an die Fernwasserleitung der Sösetalsperre angeschlossen. Auch wurde bereits zu diesem Zeitpunkt eine mögliche Beeinträchtigung des Wasserwerkes Ricklingen der Stadt Hannover sowie des Wasserwerkes der Stadt Northeim in Betracht gezogen. Da man sich seitens der Behörden der Toxizität der Abwässer durchaus bewusst war, wurden Schäden für die Fischerei in der Bremke bereits von vornherein einkalkuliert. Eine Gesundheitsgefährdung von Menschen wurde aber von den beteiligten Dienststellen für unwahrscheinlich gehalten.


Abb. 3: Abwasser-Kaskade im Bremketal, Foto Achim Schillak 1990

Bereits eine Konzentration von 1 mg/l TNT ist für Fische tödlich. Es stellte sich heraus, dass kein Verfahren bekannt war, die in der Clausthaler Fabrik anfallenden Abwässer unschädlich zu machen. Die roten sprengstoffhaltigen Abwässer wirkten noch in einer Konzentration von 1:200 fischtoxisch, eine Beeinträchtigung der Fischfauna konnte bis zu einer Verdünnung von 1:1.000 festgestellt werden.

Durch Inbetriebnahme der Konzentrationsanlage zur Denitrierung der bei der TNT-Produktion anfallenden Schwefelsäure im Herbst 1939 erhöhte sich die anfallende Abwassermenge erheblich. Es fielen im wesentlichen zwei Arten von Abwässern an – die sprengstoffhaltigen dunkelroten konzentrierten Waschwässer aus der MNT- und TNT-Wäsche und die nur schwach gelb gefärbten, weniger sprengstoffbelasteten sauren Abwässer aus der Schwefelsäureaufkonzentration, die den Hauptteil der Gesamtabwassermenge ausmachten. Diese gelben Abwässer mussten neutralisiert werden und wirkten „nur“ bis zu einer Konzentration von 1:10 fischtoxisch.

Die Fischfauna in der Großen und Kleinen Bremke war bereits kurz nach Beginn der Abwassereinleitung vernichtet worden. Im Januar 1940 kam es zu einem großen Fischsterben in Söse und Rhume. Darüber hinaus gab es Beschwerden der Wasserwerke Northeim und Hannover sowie von Mühlenbesitzern an der Leine.

Nach Anlaufen der zweiten Ausbaustufe der Fabrik im Oktober 1940 erhöhte sich die anfallende Abwassermenge erneut. Da man sich sehr wohl bewusst war, dass die Einleitung der Abwässer in die Vorfluter auf Dauer kein praktikables Verfahren sein konnte, wurde bereits im Frühjahr 1940 die Möglichkeit der Versenkung der Abwässer in den Untergrund untersucht.

Ein im September 1940 gestellter wasserrechtlicher Verleihungsantrag wurde zurückgestellt, weil sich Anfang Mai 1941 die Rotfärbung bis in die Leine nach Hannover erstreckte. Da die Produktion im Werk gesteigert worden war, stieg die anfallende Abwassermenge bis Mai 1941 auf 70.000 m³ pro Monat an und sollte noch auf 80.000 m³ erhöht werden. Eine zum damaligen Zeitpunkt bereits technisch realisierbare Klärung und Entfärbung der Abwässer mit Aktivkohle wurde als unwirtschaftlich angesehen.

Statt nun mit technischen Maßnahmen eine Abwasserreinigung durchzuführen, wurde die Versenkung der Abwässer in den Südharzer Zechsteinkarst bei Petershütte forciert vorangetrieben. In der ersten abgeteuften Bohrung wurden versuchsweise stündlich 160 - 180 m³ Abwasser über einen Zeitraum von zwei Monaten unter Druck verpresst. In einer abschließenden Stellungnahme vom 29.5.1941 wurde dazu von Prof. Dahlgrün ausgeführt: „Über den Verbleib der versenkten Abwässer kann zur Zeit noch nichts ausgesagt werden. An sich fallen die aufnahmefähigen Schichten mit wenigen Grad nach Südwesten vom Harz weg ein. In dieser Richtung dürfte auch die Hauptzirkulation der eingeleiteten Abwässer gehen. Ob daneben auch in Richtung auf die Rhumequelle ein Fließen des Abwassers stattfinden wird, ist nicht zu übersehen. Nach den Erfahrungen in anderen Zechsteingebieten ist aber damit zu rechnen, dass zunächst eine ganz beachtliche Menge Abwasser von dem Untergrund aufgenommen werden kann, ohne dass schädliche Folgen sich einzustellen brauchen. Eine Beobachtung der weiteren Umgebung der Versenkungsstelle ist jedoch erwünscht, z.B. bei den Quellen in Förste und gelegentlich auch bei der Rhumequelle. Im Augenblick erscheint es jedenfalls am dringlichsten, zunächst den unhaltbaren Zustand der Verfärbung des Söse-, Rhume- und Leinewassers abzustellen. Dabei soll nicht erörtert werden, welche Maßnahmen hier noch in Friedenszeiten zu treffen sind. Um eine glatte Verbringung des Abwassers vorerst zu ermöglichen, erscheint es zweckmäßig, neben dem ersten Bohrloch noch zwei weitere Versenkbrunnen herzustellen, die talaufwärts nach Petershütte in Abständen von etwa je 200 m anzusetzen sind“.

Prof. Dahlgrün‘s Vorschlag der Abwasserversenkung wurde trotz der damals herrschenden politischen Verhältnisse nicht von allen beteiligten Stellen widerspruchslos akzeptiert. In einer für die damalige Zeit mutigen Stellungnahme des Landesamtes für Gewässerkunde und Hauptnivellements vom 7.7.1943 heißt es wörtlich: ... „Es ist also grundsätzlich stets damit zu rechnen, daß das Abwasser wieder zutage treten kann, sobald die versenkte Menge eine bestimmte Größe überschreitet. ... Im allgemeinen ist also eine Versenkung unreiner Abwässer ein Übel, das somit irgend möglich vermieden werden muß. Eine Ausnahme von dieser Regel ist nur im Kriege denkbar, wenn nur die Wahl zwischen mehreren Übeln bleibt und die Abwasserversenkung als das kleinere Übel anzusehen ist. ... Von der letztgenannten kann unter diesen Umständen nicht unbedingt abgeraten werden; sie ist aber als Notlösung anzusehen, auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken und bei Kriegsende alsbald einzustellen, gegebenenfalls auch schon früher, wenn die Bedenken, die dagegen bestehen, durch weitere Beobachtungen verstärkt werden...“ Diese Bedenken waren auch dem zuständigen Regierungsgeologen Prof. Dahlgrün bekannt – er entschied dennoch zugunsten der Rüstungsinteressen.


Abb. 4: Lageplan der Schluckbrunnen bei Petershütte,
Quelle www.biosensor-physik.de/biosensor/werk-tanne.htm

Aufgrund erhöhter Produktionsverpflichtungen war bis zum Herbst 1941 die monatliche Abwassermenge auf ca. 120.000 m³ angestiegen. Im Zuge der Abwassereinleitung in die Vorfluter durchgeführte Fischversuche hatten ergeben, dass bei der schwachen Verdünnung in der Söse der gesamte Fischbestand vernichtet wurde und sogar in Rhume und Leine musste bei Mittelwasser „eine gewisse Schädigung der Fischerei befürchtet werden“. Für Söse und Rhume musste ein Badeverbot erteilt werden.

Im Dezember des Jahres 1941 war bereits eine zweite Bohrung bei Petershütte niedergebracht, die dritte war im Ausbau begriffen. Da seitens des Oberbergamts Clausthal bezüglich der Abwasserversenkung Bedenken geltend gemacht wurden, weil der Verbleib der verpressten Abwässer ungeklärt war und ein mögliches Zutagetreten befürchtet wurde, wurden die Schluckbrunnen vorerst nicht voll ausgelastet. Die Fabrik in Clausthal erklärte sich bereit, werksseitig eine Trennung ihrer Abwässer vorzunehmen und nur noch die rotgefärbten Abwässer in den Schluckbrunnen zu versenken, die monatlich in einer Menge von ca. 40.000 m³ anfielen. Die verbleibenden 80.000 m³ gelbgefärbten Abwässer sollten dann über die Pfauenteiche in den Ernst-August-Stollen der Preussag eingeleitet werden, von wo sie über Markau, Söse und Rhume in die Leine geflossen wären. Da die Preussag zu Recht befürchtete, die Abwässer würden auch nach der Neutralisation noch die Betonausmauerung des Stollens und die Turbinen angreifen, kam dieser Plan nicht zur Ausführung.

Über das von den Clausthaler Abwässern ausgehende Gefährdungspotenzial waren sich die Behörden durchaus bewusst. Deshalb wurden 1941 sogar Pläne für eine Entsorgung über eine gemeinsam mit der Kali-Industrie zu betreibende Abwassersammelleitung zur Nordsee diskutiert, die aber nicht mehr realisiert wurden.

Während seiner Betriebszeit im Dritten Reich produzierte das Werk Tanne insgesamt ca. 1,5 Mio. m³ rote und ca. 3,8 Mio. m³ gelbe Abwässer und somit die immense Gesamtabwassermenge von ca. 5,3 Mio. m³. Bei einem Vergleich mit dem Fassungsvermögen der Innerste-Talsperre, die einen Gesamtstauraum von 21,41 Mio. m³ hat, wird deutlich, wieviel Abwasser von der Fabrik Clausthal erzeugt wurde.

Neben den produktionsbedingt anfallenden roten und gelben Abwässern entstanden bei der betriebsinternen Abwasserbehandlung als weitere Abfallprodukte Neutralisationsschlämme in großen Mengen, die ebenfalls entsorgt werden mussten. Diese Schlämme fielen bei der Neutralisation der säurehaltigen Rohabwässer mit gelöschtem Kalk an. Nach Inbetriebnahme der Konzentrationsanlage zur Denitrierung der anfallenden Schwefelsäure mussten auch die dabei anfallenden gelben Rohabwässer, die den Großteil der Gesamtabwassermenge ausmachten, aufgrund ihres Säuregehaltes vor Einleitung in die Abwasserleitung neutralisiert werden. Dabei stellte sich bereits im Dezember 1939 heraus, dass die Neutralisationsanlage von vornherein zu klein konzipiert war, so dass noch zusätzliche Klärbecken gebaut werden mussten. Der durchschnittliche monatliche Kalkverbrauch betrug im Jahr 1939 bereits 48 t.


Abb. 5: Schluckbrunnen 4 bei Petershütte, Foto Achim Schillak 1990

Heutige Umwelt- und Gesundheitsschäden sowie Sanierungsbemühungen

Man könnte meinen, dass sich inzwischen auch die Umweltgefährdung durch den ehemaligen Betrieb „erledigt“ hat. Das Gegenteil ist der Fall. Noch heute finden sich auf dem Werksgelände, aber, was noch viel problematischer ist, auch in den ehemals genutzten Vorflutern und Absetzhalden hochtoxische Vor-, Zwischen-, End- und Umwandlungsprodukte aus der ehemaligen Sprengstoffproduktion und -abfüllung. Allein der Untere und Mittlere Pfauenteich enthielten ca. 16.000 m³ hochtoxischer Neutralisationsschlämme, die jedoch zwischenzeitlich ausgekoffert und entsorgt worden sind. Durch natürlich vorhandene Bakterien werden die Nitroverbindungen des Werksgeländes weiterhin zum Teil in gut wasserlösliche und zusätzlich krebserregende Stoffe umgewandelt. Über den Wasserpfad gelangen sie in das Grundwasser und die bergbaulichen Stollenwässer unter Clausthal-Zellerfeld sowie über Zellbach und Innerste auch in den Einzugsbereich der Trinkwassertalsperre Grane. In der Nähe der ehemaligen Schluckbrunnen bei Osterode-Petershütte am Südharz mussten bereits Trinkwasserbrunnen geschlossen werden, weil im Wasser Dinitrobenzol und aromatische Amine festgestellt worden waren, so der Brunnen im Wellbeekstal bei Lasfelde. Die Gifte fanden sich ebenfalls in Brunnen bei Badenhausen und Eisdorf.

Im Grundwasser der Söse bei Petershütte fand eine Forschergruppe hohe Konzentrationen folgender Giftstoffe: 2,4-DNBA, 3,5-DNBA, 3,5-DNP, 2-A-4,6-DNBA, 4-NBA, 1,3,5-TNB, 1,3-DNB, 2,4,6-TNT, 2,4-DNT, 2,6-DNT, siehe http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/(SICI)1521-401X(199811)26:6%3C330::AID-AHEH330%3E3.0.CO;2-T/abstract

Die Nachrichten über vermehrte Hirntumor-Krebsfälle im Südharz kamen daher im Jahr 2018 nicht überraschend. Ähnliche Nachweise sind in Clausthal-Zellerfeld (Tanne) und Herzberg am Harz (Kiefer) zu befürchten.

Der Grundwasserkörper des Oberharzes ist durch den intensiven bergbaulichen Aufschluss im Untergrund des Werkes weiträumig kontaminiert. Der untertägige Abfluss aus dem Altbergbausystem im Revier Clausthal erfolgt über den 19-Lachter-Stollen (Mundloch in Wildemann), 13-Lachter-Stollen (Mundloch in Wildemann), Tiefen-Georg-Stollen (Mundloch in Bad Grund) und Ernst-August-Stollen (Mundloch im Gittelde). Ein Gutachten wies Rückstände aus der TNT-Produktion und sprengstoffspezifische Schadstoffe in sämtlichen Stollenwässern nach. In dem zur Trinkwassergewinnung für Wildemann genutzten 19-Lachter-Stollen wurden 0,3 µg/l Nitrotoluol nachgewiesen. Die Herkunft ist auf Neutralisationsschlämme der Mono-Wäsche der TNT-Produktion zurückzuführen, die in das Stollensystem gelangt sind. Neben sehr hohen Schwermetallgehalten (Zinkgehalte von 34.000 mg/kg und Bleigehalte von 9.800 mg/kg an den Trübstoffen einer Probe) wurden Höchstkonzentrationen von 3,8 µg/l Nitroaromaten und 8,4 µg/l Hexogen am Mundloch des Ernst-August-Stollens nachgewiesen, in dem nach Gutachteraussage noch heute Neutralisationsschlämme liegen. Die Gutachter haben in dieser Frage weiteren Handlungs- und Untersuchungsbedarf festgestellt. Aufgrund der nachgewiesenen Belastung in Wildemann erfolgte die Einstellung der Trinkwassergewinnung für Wildemann aus dem 19-Lachter-Stollen.

Da aber praktisch der gesamte Westharz Vorranggebiet für die Trinkwasserversorgung in Niedersachsen ist, geht vom Werk „Tanne“ auch heute noch ein bemerkenswertes toxisches Gefährdungspotenzial für diese Versorgung aus.

Aus den genannten Gründen wurden aufgrund des Drucks der Umweltverbände, insbesondere des BUND, und Bürgerinitiativen, die das Thema „Werk Tanne“ nachhaltig wirksam in die öffentliche Diskussion brachten, Sanierungsbemühungen eingeleitet. Für einige Jahre war das Werk Tanne mit den dortigen Versuchen zur biologischen Behandlung von Neutralisationsschlämmen sowie der Behandlung sprengstoffkontaminierter Böden und Schlämme mit Weißfäulepilzen als F&E-Vorhaben „Mikrobiologische Behandlung sprengstoffkontaminierter Böden“ bundesweites Modellsanierungsprojekt. Auch wurden Rückhaltebecken am Rande des Werksgeländes gebaut und teilweise findet eine Ablaufwasser-Reinigung durch Aktivkohlefiltration statt. Alle diese Maßnahmen sind jedoch bisher nur Not- bzw. Zwischenlösungen.

Literatur

Alle Literatur- und Quellenangaben in: BRAEDT, M., HÖRSELJAU, H., JACOBS, F. & KNOLLE, F. (2004): Die Sprengstoffabrik „Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld – Geschichte und Perspektive einer Harzer Rüstungsaltlast. – 3. Aufl., 166 S., 58 Abb., Verlag Papierflieger, Clausthal-Zellerfeld

Nach Erscheinen der Erstauflage unseres Buchs publizierte Schriften (Auswahl)

BINNEWIES, W. (2001): Erinnerungen an „Werk Tanne“. – Allgemeiner Harz-Berg-Kalender 2002, S. 67 - 68

BUHS, A. (2000): Zur Vorgeschichte und Planung der Sprengstoffabrik „Tanne“ bei Clausthal-Zellerfeld. – Harz-Z. 50/51, S. 135 - 163

KNOLLE, F. (2014): Die Gedenkstätte „Russenfriedhof“ am Massengrab der Sprengstoff-Fabrik Tanne in Clausthal-Zellerfeld. – Unser Harz 62 (1): 3 - 6

PIETSCH, J. (1998): Sprengstoff im Harz. Zur Normalität des Verbrechens: Zwangsarbeit in Clausthal-Zellerfeld. – Edition Hentrich, 248 S., 59 Abb., Berlin

RADDAY, H. (2013): „... damit den unschuldigen Opfern von „Werk Tanne“ geholfen werden kann.“ – Unser Harz 61 (2): 23 - 28

TEICKE, J. (2012): Die Pfauenteiche sind saniert. Beseitigung einer Rüstungsaltlast. – Unser Harz 60 (11): 203 - 206


Korrespondierender Autor: Dr. Friedhart Knolle, Spurensuche Harzregion e.V., www.spurensuche-harzregion.de

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